Vineta. Oskar Loerke
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Zuerst wollte er der Uhr ein üppiges Vierkleeblatt einritzen, der aufdringlichen Weise zu Trotz, aber sein Entwurf veränderte sich in ein Kreuz.
Die Sonne spielte auf dem Metall blitzend und blendend und erleuchtete die Hände porzellanklar. Und immerzu sang er und mußte über sich, den grundlos kühlen Wehmutmann, lachen, weil er von Strahlen überwaschen wurde wie ein Schneemann von weichem Frühlingsregen.
Er wußte, daß ihm niemand eine so bezeichnete Uhr abkaufen werde. Trotzdem ließ er sich wie unter einem Zwange gehen und vollendete sein Werk, indem er die Felder mit schwarzer Farbe ausfüllte. – Dann erst fühlte er sich frei. Ihm begann das verunzierte Gold leid zu tun.
Er trug mit schlechtem Gewissen die Uhr wieder hinab und versteckte sie unter den übrigen in einem Winkel des Ladens.
Seit einer Stunde lag Elisabeth schweigend da. Sie hatte sich mit der Freundin Geschichten erzählt und dabei solche gewählt, wo prächtige oder wilde Abenteuer gehäuft und zu entwirren waren. Die letzte hatte gehandelt von großen Kämpfen, aus welchen sämtliche Fechtende mit zerbrochenen Schwertern, aber unversehrt hervorgingen. Darauf war sie müde geworden und mochte nur noch zuhorchen.
Hermine erzählte, freilich ohne bewußte Wahl, Begebenheiten ohne allzu straffe Handlung, wie den Rattenfänger von Hameln, um in Ausmalungen der Wälder, Schlösser und Trachten aus ihrer eigenen Empfindung und Vorstellung viel hinzufügen zu können. Aber bald schien ihr Elisabeths blasses Gesicht nicht in die Märchenwelten hineinzusehen.
Sie beendete ihre Geschichte und saß nur steilrecht am Lager der Freundin. Besorgt war sie nicht. Auf diesem Platze fühlte sie sich auch jetzt glücklicher als überall.
An dem einen Fenster saß ebenso still Frau Pfeiffer, die nur ab und zu leise hinter die Tür ging und mit dem Taschentuch in der Hand zurückkam, an dem andern Elisabeths älterer Bruder Bruno.
An diesen wandte sich Hermine um eine Weile: „Bring’ uns deine Schiffe.“
Er schleppte eine große weiße Wanne herein, stellte sie neben das Bett auf einige Schemel und füllte sie mit Wasser. Dann holte er eine Menge kleiner Borkekähne hervor. Aus jedem ragte ein Mast mit einem von den Mädchen besäumten weißen Segel, und an jedem Schnabel war ein weißer Zwirn befestigt.
Bruno setzte sich an sein Fenster, die Mädchen fingen schüchtern an, die Schifflein von Ufer zu Ufer zu ziehen, Elisabeth eine Hälfte nach dem Bett hinüber, Hermine die andere von dort zu sich, und auf der Mitte des Weges fand eine Begegnung statt. Weil aber keines von beiden plauderte und sie einander so nahe fühlten, daß sie nicht aus geschiedenen Weltteilen Schätze über das Meer senden mochten, wurden sie zaghaft. Die Zeit des Spielens wird vergangen sein für immer, ahnte Hermine. Sie starrte auf das Wasser und tändelte mit langsamen Fingern in seiner Fläche. Plötzlich begann sie leidenschaftlich die Sage von Vineta, der untergegangenen Stadt, rühmte die Tore von blankem Metall, die kostbaren Schaugepränge und Leichenzüge in den düsteren Straßen, die silbernen Glocken in hohen Türmen … Noch einmal ergriff Elisabeth die schlaffen Fäden, zog ganz matt die Schiffe über das Wasser und sah mit Augen hinein, als ob sie selbst an einem Borde stünde und Kuppeln und Spitzen in der Tiefe unterschiede. Hermine erfand immer mehr, um das Spiel lange anzuschauen, mußte aber schließlich aufhören. Es ward still und die Stille begann zu klingen …
Aber bald verlangte Elisabeth nach ihrer Schultafel, obwohl sie doch vierzehn Jahre alt war. Ihre Sinne verwirrten sich schon. Man brachte ihr die Tafel samt einem Schieferstift, und sie malte seltsame Linien darauf und schrieb kaum leserlich darunter ‚Vineta‘. In wachsender Aufregung warf sie das Bild in das aufspritzende Wasser und ließ mit heftigen Rucken wieder die Schiffe hinausfahren. Da fühlte sich Hermine mit einmal leer. Solange sie sich lebendig in das Unglück der Stadt versetzt und im Traume nach ihrer verborgenen Herrlichkeit gesehnt hatte, waren ihr die Kähne Boten aus unerreichbaren Landen gewesen. Nun ward ihr das Spiel zu sehr Spiel. Die Zeit wird für immer vorüber sein, ahnte sie wiederum und versank in sich.
Elisabeth war in die Kissen gefallen, verlor völlig ihr Bewußtsein und erwachte nicht mehr. Bis zum Abend lag sie mitunter stöhnend auf dem Rücken. Die Mutter hatte nicht geahnt, daß es so schlimm mit ihr stünde und das viele Sprechen, wenn auch bekümmert, zugelassen. – Der Vater wurde gerufen. Er steckte spät die Lampe an, verhängte sie jedoch mit einem doppelten Tuch. Ehe das geschehen war, verschied Elisabeth. Die Mutter merkte es, schrie auf, das Tuch sank vom Lichte herab, und im vollen Schein sah Hermine eine jähe Trauerszene.
Sie selbst stand hoch da, mit harten Zügen, aber ohne eine Träne im Auge. Sie schien bis auf die vollen braunen Haare ganz und gar eine andere.
Nach einer Weile ging sie auf Bruno zu und sagte, am ganzen Leibe zitternd: „Mit dir spiele ich nicht mehr. Gibst du mir alle deine Schiffe?“
Er sah sie verwundert an und nickte.
Sie packte das Spielwerk unter beide Arme. So ging sie, ohne rückzublicken und sich zu verabschieden, davon.
Schnell schritt sie über den kleinen Marktplatz nach Hause. Nach allen Richtungen hin weitauseinander blinkten grünliche Laternenflämmchen und steckten eine seltsame Figur ab. Die kühle Dunkelheit lag drückend, riesenhaft umher, und was von Giebeln und Mauern seinen Umriß durch ihre dichten Hüllen schob, sah aus wie schwaches Pappwerk.
Erst auf der Mitte des Weges linderte sich Hermines Schmerz bis zu einem gewissen Erfassen seiner Größe. Sie hielt ihre Schiffe fester und fühlte sich verlassen wie ein Entdecker, dem eine neue Welt untergegangen wäre im Augenblick, da er sie erobern konnte. Sie hörte ihre einsamen Füße auf den Steinen schallen und beeilte sich mehr.
Im Hausflur blieb sie, noch zweifelnd, was sie erzählen sollte, stehen. Ganz unbefangen, wie es der Augenblick heraus preßte, mochte sie aus einer unbestimmten Scheu nicht reden, zumal, wenn der Stiefvater zugegen wäre. Zögernd drehte sie sich ganz herum, und es war ihr, als erhübe sich die Freundin in ihrer Seele unter einem Haufen zerbrochener Schwerter, die nach allen Seiten in sie drangen. Durch den Staub des halbkreisförmigen Fensters über der gartenwärts führenden Tür lugte, kaum bemerkbar, verfrorener Mondschein, und ganz unten klebte ein dicker toter Schmetterling in kleinem Dunsthof. Zwar machten ihr diese Dinge keinen deutlichen Eindruck in die Seele, aber ihr Schweigen weckte ein verwandtes Schweigen, wie umgekehrt ein Beter in der Kirche einen anderen macht, wenn dieser sonst auch ein schamhafter Mensch wäre. Sobald Hermine ihren Schmerz gesänftigt fühlte, trat sie mit dem Willen, ihn nie einschlafen zu lassen, entschlossen vorwärts.
In die beiden Wohnstuben führten zwei Zugänge vom Flur, einer durch die Schlafstube und einer durch das jetzt schon für morgen hergerichtete gute Zimmer. Den ersten wählte Hermine. Etwas erstaunt fand sie ihre Angehörigen im Schlafraum beisammen. Auf dem Tische stand keine Lampe, nur ein Leuchter in der verrenkten Gestalt eines aufgebäumten Hirsches, der eine dünne Kerze im Maule trug und zu verschlucken schien. In der gelblichen Glanzdecke zeigte sich dasselbe Bild als verschwommene Umkehrung. Dagott hatte schon das Bett aufgesucht. Er lag im Hellen und blinzelte eingemummt wohlig nach der Wiege Ruths hinüber. Diese zu überwachen, verrichtete die Mutter ihre Arbeit ebenfalls hier. Sie stand im Dämmerdunkel, Mürbkuchen zurechtformend, und hatte bereits eine ganze Anzahl von Herzen, Monden und Sternen ausgestochen. Bei jedem Stück buchtete sie jedoch mit hurtigem und geschicktem Messer ein wenig Teig weg, den sie lächelnd auf einen besonderen Haufen warf. Ihr Bett war auch schon aufgedeckt.
So starr in die Höhe gerichtet wie jener Hirsch, blickte sie, einen Zuckerstern zwischen zwei Fingern,