Die Blinde. Уилки Коллинз
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Mehr als ein Zeuge war auf der Straße von Brighton ihrer Chaise mit der Kiste begegnet. Als sie aber den Wagen wieder zu dem Fuhrwerksbesitzer brachten, von welchem sie denselben gemiethet hatten, war von der Kiste nichts mehr zu sehen. Complicen in Brighton waren ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach behilflich gewesen, die Metallplatten aus der Kiste zu entfernen und in gewöhnliche Reisekoffer, die keine besondere Aufmerksamkeit an der Eisenbahnstation erregen konnten, zu verpacken. So lautete die Erklärung der Polizei, und gleichviel ob sie nun richtig oder unrichtig war, so stand fest, daß die Spitzbuben nicht gefaßt wurden und daß der räuberische Einbruch in Oscars Haus auf die lange Liste der Verbrechen gesetzt werden muß, welche so geschickt ausgeführt werden, daß der Arm des Gesetzes die Thäter nicht erreicht.
Wir für unsern Theil kamen Alle darin überein, Lucilla’s Beispiel zu folgen und uns nicht in nutzlosen Klagen zu ergehen, sondern dankbar dafür zu sein, daß Oscar ohne ernste Verletzung davongekommen war. Das Uebel war nun einmal geschehen. In dieser philosophischen Stimmung sahen wir die Sache an, während unser Patient sich erholte; wir brüsteten uns Alle mit unserem so ungemein verständigen Verhalten und, – ach, wir armen kurzsichtigen Menschen! Wir waren Alle in einem verhängnißvollen Irrthum befangen. Weit entfernt, sein Ende erreicht zu haben, hatte das Uebel erst angefangen. Die eigentlichen Folgen des in Browndown verübten Raubes sollten sich noch erst zeigen und sollten ihre eigenthümliche und traurige Wirkung jedem Mitgliede des kleinen in Dimchurch versammelten Kreises fühlbar machen.
Sechzehntes Kapitel.
Die Folgen des Raubes
Fünf bis sechs Wochen nach dem erlittenen Unfall durfte Oscar sein Zimmer verlassen und war von seiner Wunde geheilt Während dieser Zeit war Lucilla ihrem Programme, Oscar zu heilen, um ihn dann zu heirathen, beharrlich treu geblieben. Nie habe ich eine ähnliche Pflege gesehen und werde auch wohl nie etwas Aehnliches wieder sehen. Von früh bis spät wußte sie ihn auf die eine oder die andere Art zu zerstreuen und ihn bei guter Laune zu erhalten.
>Das reizende Geschöpf verstand es sogar, ihre Blindheit zu einem Mittel der Erheiterung ihres Geliebten zu machen; bisweilen setzte sie sich vor Oscar’s Spiegel und ahmte alle die unzähligen kleinen Künste einer eitlen Kokette, die sich für ihre Eroberungen schmückt, mit so wunderbarer Wahrheit und einem so echt komischen Geberdenspiel nach, daß man hätte schwören mögen, sie sei im Vollbesitz ihrer Sehkraft; dann wieder gab sie Oscar Proben ihrer außerordentlichen Fähigkeit, auf dem Klang der Stimme einer Person die Entfernung zu berechnen, in welcher sich diese Person befand. Bei diesen Versuchen mußte ich mich zum Opfer hergeben; nachdem Lucilla eines der Bouquetta die sie immer selbst vor Oscar’s Bett zu legen pflegte, in die Hand genommen hatte, wies sie mich an, mich geräuschlos an irgend eine beliebige Stelle des Zimmers zu begeben und ihren Namen auszusprechen. Kaum hatte ich den Namen ausgesprochen, als auch schon das Bouquet mir in’s Gesicht flog. So oft sie dieses Experiment auch versuchte, nie verfehlte sie ihr Ziel und nie ließ sie in der Kundgebung ihrer kindischen Freude über ihre eigene Geschicklichkeit nach. Niemand anders durfte Oscar seine Medicin geben; sie hörte an dem Klang der in den Löffel gegossenen Flüssigkeit, ob der Löffel voll war. Als Oscar wieder im Bette auf sitzen durfte, konnte sie ihm, wenn sie am Kopfende des Bettes stand, nach der verschiedenen Wirkung der Luftströmung das ihr Gesicht, je nachdem er sich vorüberbeugte oder zurücklehnte, sagen, wie nahe sein Kopf dem ihrigen sei. In derselben Weise war sie durch die verschiedene Wirkung der Luft aus ihre Stirn und ihre Wangen im Stande, so gut wie Oscar zu sagen wann die Sonne schien und wann sie von Wolken verhüllt war.
Das ganze Gewirre von kleinen Gegenständen die sich in einem Krankenzimmer ansammeln, wußte sie nach eine m ihr eigenthümlichen System in der besten Ordnung zu erhalten. Es machte ihr das größte Vergnügen, das Zimmer spät Abends, wo wir Sehende in unserer Hilflosigkeit daran denken mußten, Licht anzuzünden, aufzuräumen. In der Dämmerungsstunde schwebte sie, für uns noch eben erkennbar, im Zimmer hin und her, bald sichtbar, wenn sie am Fenster vor überging, bald in das Dunkel der entfernteren Theile des Zimmers verloren und fing an, die Gegenstände die während des Tages gebraucht worden waren, von dem Tische abzuräumen und diejenigen, welche während der Nacht gebraucht werden würden, darauf hinzustellen. Wir durften nicht eher Licht anzünden, als bis sie uns das Zimmer wie durch Feenhände geordnet zeigen konnte. Wenn wir uns überrascht zeigten, lachte sie schalkhaft und sagte, sie bedaure die armen unnützen Menschen aufrichtig, die nichts ohne Licht thun könnten. Dasselbe Vergnügen, das es ihr gewährte, das Zimmer im Dunkeln aufzuräumen, machte es ihr auch, im Dunkeln durch das ganze Haus zu gehen und sich mit jedem Winkel desselben vom Dach bis zum Keller gründlich bekannt zu machen. Sobald Oscar wohl genug war, um wieder hinunterzugehen bestand sie darauf, ihn zu führen.
»Sie waren so lange auf Ihr Zimmer angewiesen,« sagte sie, »daß Sie das übrige Haus vergessen haben müssen. Nehmen Sie meinen Arm und kommen Sie mit mir. Jetzt sind wir auf dem Vorplatz, vergessen Sie nicht; hier führt eine Stufe hinunter und hier führt wieder eine Stufe hinauf; hier auf dem oberen Treppenabsatze müssen Sie um eine scharfe Ecke biegen und hier ist eine häßliche Falte im Treppenteppich, über die Sie fallen könnten.« So brachte sie ihn nach seinem eigenen Wohnzimmer, als ob er blind und sie sehend wäre.
Wer hätte einer solchen Pflegerin widerstehen können? Ist es zu verwundern, als ich einen Augenblick an jenem Tage das Zimmer verlassen hatte, daß ich seinen Ton vernahm, der eine höchst verdächtige Aehnlichkeit mit einem Kusse hatte? Ich hatte sie stark im Verdacht, daß sie auch hierbei der führende Theil gewesen sei; denn sie war so eigenthümlich ruhig und er sah so eigenthümlich bestürzt aus, als ich wieder in’s Zimmer trat. Eine Woche nach Oscars Genesung beschloß Lucilla die Kur ihres Patienten, mit anderen Worten, Oscar machte ihr einen Heirathsantrag. Ich bin fest überzeugt, daß er es nicht ohne Hilfe zu Stande gebracht haben würde, diesen Wendepunkt in einer so zarten Angelegenheit herbeizuführen und daß Lucilla ihm diese Hilfe leistete.
Ich will es dahin gestellt sein lassen, ob ich darin Recht oder Unrecht habe, die Thatsache aber kann ich verbürgen, daß Lucilla, als sie mir an einem lieblichen Herbstmorgen die Neuigkeit mittheilte, in einer so ans gelassenen Laune war, daß sie vor Freude tanzte und was noch unschicklicher war, mich in meinen respektablen Jahren mit ihr zu tanzen zwang. Sie faßte mich um die Taille und walzte mit mir auf dem Rasen, während Frau Finch in der abgesetzten blauen, Jacke, das Baby in der einen und den Roman in der andern Hand, dabei stand und uns beide mahnte, daß wenn wir eine halbe Stunde damit verlören, auf dem Rasen herumzuwirbeln, wir die verlorene Zeit in diesem Hause nie wieder einbringen würden. Trotzdem fuhren wir fort zu tanzen, bis wir ganz außer Athem waren. Nur die vollständigste Erschöpfung konnte Lucilla bändigen. Was mich betrifft, so bin ich, glaube ich, die rascheste Person meines Alters, die es gibt. Ich höre den Leser fragen, wie alt ich denn sei? Ja, das ist der einzige Punkt, über welchen ich immer die strengste Discretion beobachte. Setzen wir meine Raschheit auf Rechnung meiner französischen Nationalität, meines ruhigen Gewissens, meiner vortrefflichen Verdauung und fahren wir in unserer Erzählung fort.