Die neue Magdalena. Уилки Коллинз
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Читать онлайн книгу Die neue Magdalena - Уилки Коллинз страница 12
Die Uhr hat eben Zwei geschlagen. Der Tisch ist zum Frühstück gedeckt.
Die Personen, welche am Tische sitzen, sind Lady Janet Roy, eine junge Dame, ihre Gesellschafterin und Vorleserin, und ein Gast des Hauses, welcher unter dem Namen Horace Holmcroft in diesem Buche bereits aufgetreten ist – derselbe, welcher als Korrespondent einer englischen Zeitung die deutsche Armee begleitet hatte.
Lady Janet Roy bedarf keiner langen Einführung. Jedermann, der im Geringsten den Anspruch erhebt, mit den gesellschaftlichen Verhältnissen Londons bekannt zu sein, kennt Lady Janet Roy.
Wer hat nicht schon von ihren alten Spitzen, von ihren einzigen Rubinen gehört? Wer hat nicht schon ihre imponierende Gestalt, ihr schön gekämmtes, weißes Haar, ihre herrlichen, schwarzen Augen bewundert, welche noch ihren jugendlichen Glanz besitzen, nachdem sie doch schon vor siebzig Jahren zum erstenmale in die Welt geblickt? Wer hätte nicht schon den Zauber ihrer ungezwungenen, leicht fließenden Rede, ihrer unerschöpflich guten Laune, ihrer heiteren, wohlwollenden Leichtigkeit empfunden? Wo ist der moderne Einsiedler, welcher nicht wenigstens vom Hörensagen genau mit der phantastischen Originalität und Laune ihrer Ansichten bekannt wäre; der nicht wüsste, dass sie allezeit edel und aneifernd das Verdienst jeder Art und jeden Ranges, hoch oder niedrig, hervorzuheben suchte; dass ihr wohltätiger Sinn keinen Unterschied kennt zwischen Heimat und Fremde; dass ihre unbegrenzte Nachsicht sich durch keine Undankbarkeit entmutigen, durch keine Heuchelei in falsche Bahnen bringen lässt? Jedermann hat von der populären alten Dame gehört – der kinderlosen Witwe eines längst vergessenen Lords. Jedermann kennt Lady Janet Roy.
Aber wer kennt die schöne, junge Dame ihr zur Rechten, die aussieht, als spielte sie mit ihrem Frühstück, anstatt es zu verzehren! Eigentlich kennt sie niemand.
Sie ist hübsch in grauen Poplin gekleidet, mit grauem Samt besetzt und mit einer dunkelroten Bandschleife am Halse. Sie ist fast ebenso groß als Lady Janet selbst, und ihre Gestalt besitzt dabei so viel Grazie und Schönheit, wie dies nur selten bei den Frauen der Fall ist, die über die mittlere Größe hinausragen. Die angeborene Hoheit in der Haltung ihres Kopfes und in dem Ausdruck ihrer großen, schwermütigen Augen könnte Menschen, welche auf Herkunft und seine Sitten einen besonderen Wert legen, leicht zu dem festen Glauben führen, sie sei ebenfalls eine vornehme Dame. Aber ach! Sie ist nur Lady Janets Gesellschafterin. Ihr Kopf mit dem prachtvollen, lichtbraunen Haar, wie mit einer Krone bedeckt, neigt sich in sanfter Ehrerbietung bei jedem Worte, das Lady Janet spricht. Ihre feine, feste Hand ist gern und unablässig wachsam, Lady Janet den kleinsten Dienst zu leisten. Die alte Dame – von herzlicher Vertraulichkeit in ihrem Verkehr mit ihr – behandelt sie ungefähr wie ein angenommenes Kind. Allein die Dankbarkeit der schönen Gesellschafterin für so viel Güte äußert sich immer in derselben zurückhaltenden Weise; in ihrem Lächeln, mit dem sie Lady Janets frohe Heiterkeit beantwortet, liegt stets dieselbe verhaltene Trauer. Schlummert hier vielleicht unter der Oberfläche irgendein begangenes Unrecht? Leidet sie geistig oder körperlich? Was ists mit ihr?
Sie hat geheime Gewissensbisse. Das ists mit ihr. Dies zarte, schöne Geschöpf verzehrt sich unter der stillen Qual beständiger Selbstvorwürfe.
Der Herrin des Hauses und allen denen, die dasselbe bewohnen und betreten, ist sie bekannt als Grace Roseberry, die verwaiste Verwandte von Lady Janet Roy. Sie allein weiß, dass Sie in Wahrheit das verworfene Geschöpf der Londoner Straßen ist; die Bewohnerin des Besserungshauses; dass sie die Verlorene ist, welche so lange umsonst zu erkämpfen gesucht, was sie nunmehr sich erstohlen hat – die Rückkehr zu Heimat und Unbescholtenheit. Da sitzt sie im düsteren Schatten ihres eigenen, furchtbaren Geheimnisses, verkleidet in die Person einer anderen und im Besitze der Stelle einer anderen. Mercy Merrick durfte es ja nur wagen, wenn sie Grace Roseberry werden wollte. Sie hat es gewagt, und seit beinahe vier Monaten ist sie nun Grace Roseberry.
In diesem Augenblicke, während Lady Janet mit Horace Holmcroft spricht, weilen ihre Gedanken bei einem Gespräch, welches zwischen ihnen geführt worden war, und dies ruft in ihr die Erinnerung jenes Tages wach, an welchem sie den ersten, verhängnisvollen Schritt zu dem Betruge getan.
Wie leicht war ihr die Verstellung geworden. Beim ersten Anblick gleich war Lady Janet von dem edlen, interessanten Antlitz völlig bezaubert. Es war gar nicht einmal nötig, ihr den gestohlenen Brief zu übergeben und die vorbereitete Geschichte zu erzählen. Die alte Dame hatte den Brief uneröffnet weggelegt und die Erzählung bei den ersten Worten unterbrochen. »Ihr Gesicht führt Sie bei mir ein, liebes Kind; Ihr Vater kann Sie mir nicht besser empfehlen als Sie sich selbst.« Dieser Empfang bestätigte sie bei ihrem Eintritt in ihrer gefälschten Identität. Ihre eigenen Erfahrungen und das »Tagebuch« über die Ereignisse in Rom setzten sie in Stand, jede Frage in Betreff des Lebens in Kanada und in Betreff der Krankheit des Obersten Roseberry pünktlich zu beantworten, so dass, wenn selbst ein Verdacht bestanden hätte, derselbe auf der Stelle entwaffnet worden wäre. Während die wahre Grace in einem deutschen Lazarett nur langsam in das Leben zurückkehrte, ward die falsche Grace bei allen Bekannten Lady Janets als eine angeheiratete Verwandte der Herrin von Mablethorpe-House eingeführt. Seit jener Zeit war nichts geschehen, was in ihr auch nur den schwächsten Verdacht hatte erregen können, dass Grace nicht längst tot und begraben sei. So viel sie jetzt wusste – so viel überhaupt jemand jetzt wusste – war mit Sicherheit anzunehmen, dass nichts sie hindern würde, wenn nicht ihr Gewissen es tat, ihr ganzes Leben hindurch geachtet, ausgezeichnet und geliebt, die Stellung einzunehmen, welche sie sich angemaßt hatte.
Jetzt stand sie plötzlich vom Tische auf. Das ganze Streben ihres Lebens war, sich von Erinnerungen loszumachen, die sie unablässig verfolgten, wie sie sie auch jetzt verfolgten. Ihr Gedächtnis war ihr schlimmster Feind; die einzige Rettung davor war Veränderung in der Beschäftigung, Veränderung des Ortes.
»Kann ich in den Wintergarten gehen, Lady Janet?« fragte sie.
»Gewiss, liebes Kind.«
Sie neigte den Kopf gegen ihre Beschützerin, warf einen Blick voll fester, mitleidsvoller Aufmerksamkeit auf Horace Holmcroft – und ging dann langsam durch das Zimmer in den Wintergarten. Horaces Augen folgten ihr, so lange sichtbar war, mit einem neugierigen, widersprechenden Ausdruck von Bewunderung und Missbilligung. Sobald sie ihm aus dem Gesichte war, verlor sich der Ausdruck der Bewunderung und es blieb nur der der Missbilligung. Der junge Mann zog seine Stirne in finstere Falten; er saß schweigend da, die Gabel in der Hand, und spielte zerstreut mit den Überresten des Frühstückes auf seinem Teller.
»Nehmen Sie noch von der französischen Pastete, Horace«, sagte Lady