Die neue Magdalena. Уилки Коллинз
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Sie stand wieder am Bette und blickte abermals auf das Gesicht der Leiche.
Wozu sollte das gut gewesen sein, dass die Kugel dies Wesen traf, welches so manche Hoffnung für das Leben hatte und jenes verschonte, welches keine Hoffnung mehr besaß? Worte, welche sie selbst zu Grace Roseberry gesprochen hatte, fielen ihr jetzt wieder ein: »Könnte ich nur mit Ihnen tauschen! Hätte ich nur Ihren Ruf und Ihr Aussichten für die Zukunft!« Da lag das Glück zerstört! Die beneidenswerten Aussichten vernichtet! Es war beinahe, um wahnsinnig zu werden, wenn sie mit dem Gefühle ihrer Lage dies Ende betrachtete. In dem bitteren Hohn der Verzweiflung beugte sie sich über die leblose Gestalt und sprach zu ihr, als hätte sie Ohren, zu hören. »O«, sagte sie sehnsüchtig, »könntest du Mercy Merrick, und ich jetzt Grace Roseberry sein!«
Die Worte waren kaum über ihre Lippen, als sie sich mit einer raschen Bewegung hoch aufrichtete. Sie stand neben dem Bett und starrte mit ihren Augen wild in den leeren Raum; ihr Gehirn brannte; ihr Herz schlug so heftig, als wollte es sie ersticken. »Könntest du Mercy Merrick, und ich jetzt Grace Roseberry sein!« In einem Momente lenkte dieser Gedanke ihren Geist in neue Bahnen. In einem Momente zuckte in ihr die Überzeugung wie ein elektrischer Schlag. Sie konnte Grace Roseberry sein, wenn sie es nur wagte! Nichts, gar nichts hinderte sie, sich bei Lady Janet Roy unter Graces Namen als Grace einzuführen.
Was wagte sie dabei? Wo war der wunder Fleck in diesem Plan? Grace selbst hatte es so bestimmt erzählt – dass sie und Lady Janet einander niemals gesehen hatten. Ihre Bekannten wohnten in Kanada; ihre Verwandten in England waren tot. Mercy kannte den Ort, wo Grace gelebt hatte – Port Logan hieß er – so gut, als jene ihn gekannt hatte. Mercy brauchte nur das eigenhändig geschriebene Tagebuch zu lesen, um im Stande zu sein, die Fragen, welche sich auf den Aufenthalt in Rom und auf den Tod des Obersten Roseberry bezogen, zu beantworten. Sie brauchte keine feingebildete Dame vorzustellen. Grace selbst – dann ihres Vaters Brief hatten in klaren Worten von ihrer vernachlässigten Erziehung gesprochen. Alles buchstäblich, alles war zu ihren Gunsten. Die Leute, mit denen sie bei der Ambulanz in Berührung gekommen, waren fortgegangen, um nicht mehr wiederzukehren. Ihre eigenen Kleider – mit ihrem Namen gemerkt – waren in diesem Augenblick an Miss Roseberrys Körper. Miss Roseberrys Kleider, ebenfalls mit ihrem Namen gemerkt, waren zum Trocknen im nächsten Zimmer aufgehängt und standen zu Mercys Verfügung. Der Weg zur Flucht aus der unerträglichen Demütigung ihres gegenwärtigen Lebens lag endlich offen vor ihr da. Welch eine Aussicht war das! Eine neue Identität, die sie allerorten bekennen durfte! Ein neuer Name, über jeden Makel erhaben! Eine neue Vergangenheit, welche die ganze Welt kennen durfte! Ihr Gesicht flammte, ihre Augen funkelten; niemals war sie so unwiderstehlich schön gewesen, als in dem Augenblicke, wo sich ein neues Leben, strahlend von neuen Hoffnungen, vor ihren Blicken auftat.
Sie wartete eine Minute, bis sie im Stande war, ihren kühnen Plan auch noch von einem anderen Standpunkte aus zu überschauen. Wo lag hierin das Böse? Was sagte ihr Gewissen dazu?
Zuerst, in Betreff Graces. Welches Unrecht fügte sie der Toten damit zu? Die Frage beantwortete sich von selbst. Der Toten geschah kein Unrecht; desgleichen geschah ihren Verwandten keines. Denn ihre Verwandten waren auch gestorben.
Weiter, in Betreff Lady Janets. Wenn sie ihrer neuen Herrin treu diente, wenn sie den Verpflichtungen ihrer neuen Stellung ehrenvoll nachkam; wenn sie bei Belehrung Eifer, für Güte Dankbarkeit bewies – wenn sie, mit einem Wort, alles das wäre, was sie sein konnte und in dem himmlischen Frieden und der Sicherheit jenes neuen Lebens sein wollte – welches Unrecht beging sie da gegen Lady Janet? Abermals beantwortete sich diese Frage von selbst. Sie konnte und wollte Lady Janet Grund geben, den Tag zu segnen, wo sie zuerst ihr Haus betrat.
Sie raffte den Brief des Obersten Roseberry zusammen und steckte ihn zu den anderen Papieren in der Tasche. Die Gelegenheit lag vor ihr; alle Aussichten waren ihr günstig; ihr Gewissen wendete nichts ein gegen den kühnen Plan. Sie entschied somit. – »Ich will es tun!«
In ihrem Innern sträubte sich etwas dagegen, ihr besseres Selbst fühlte sich davon verletzt, als sie die Brieftasche in die Tasche ihres Kleides schob. Sie war entschieden, und doch fühlte sie ein Missbehagen; sie war nicht sicher, ob sie ihr Gewissen denn auch wahrhaft erforscht habe. Wie wäre es, wenn sie die Brieftasche wieder auf den Tisch legte und abwartete, bis ihre Erregung sich ganz abgekühlt hätte – wenn sie dann den rasch gefassten Plan vor den Richterstuhl ihres nüchternen Urteiles über Recht und Unrecht brächte? Sie dachte darüber nach – und war unschlüssig. Bevor sie dies ein zweites Mal tun konnte, trug die Nachtluft den dumpfen Lärm marschierender Massen und das Getrappel von Pferdehufen aus der Entfernung zu ihr herüber. Die Deutschen rückten gegen das Dorf an! In einigen Minuten mochten sie im Häuschen erscheinen; sie mochten sie auffordern, über ihre Person Rechenschaft zu geben. Es war darum keine Zeit, um abzuwarten, bis sie sich wieder gefasst hätte. Was sollte sie wählen – das neue Leben, als Grace Roseberry? Oder das frühere Leben, als Mercy Merrick?
Sie blickte zum letzten Mal nach dem Bett hin. Graces Lebenslauf war vollendet; Graces Zukunft stand zu ihrer Verfügung. Ihre entschlossene Natur zur Wahl auf der Stelle gedrängt, hielt sich an die gewagte Alternative. Sie beharrte auf dem Entschluss, an Graces Stelle zu treten.
Der Lärm vom Anmarsch der Deutschen kam immer näher und näher. Schon hörte man die Kommandorufe der Offiziere.
Sie setzte sich an den Tisch nieder und wartete ruhig auf das, was kommen würde.
Der unabweisliche Instinkt ihres Geschlechtes zwang sie, ihre Augen über ihren Anzug gleiten zu lassen, ehe die Deutschen erschienen. Indem sie prüfte, ob daran alles in Ordnung sei, fiel ihr Blick auf das rote Kreuz an ihrer linken Schulter. Einen Augenblick machte es sie stutzig, dass ihre Kleidung als Krankenpflegerin sie vielleicht in unnötige Verlegenheit bringen könnte. Sie brachte sie mit einer öffentlichen Stellung in Verbindung; sie mochte in späterer Zeit einmal Anlass zu Erkundigungen geben, die sie verraten könnten.
Sie blickte umher. Der graue Mantel, welchen sie Grace geliehen hatte, fiel ihr in die Augen. Sie erfasste ihn und hüllte sich darein von Kopf bis zu Fuß.
Sie war eben damit fertig, den Mantel an ihrem Körper in Ordnung zu bringen, als die äußere Tür aufgestoßen wurde, in fremder Sprache redende Stimmen sich vernehmen ließen und in dem Zimmer hinter ihr das Weglegen der Gewehre hörbar wurde. Sollte sie abwarten, dass man sie entdeckte? Oder sollte sie sich aus freiem Antrieb zeigen? Es war für ein Wesen ihrer Art weniger peinlich, sich zu zeigen als abzuwarten. Sie schritt vor, um in die Küche zu treten. Als sie ihre Hand nach dem Zeugvorhang ausstreckte, war derselbe plötzlich von der anderen Seite zurückgezogen und drei Männer standen ihr in dem offenen Türgang gegenüber.
5.
Der deutsche Arzt
Der jüngste der drei Fremden war – so viel man aus seinen Gesichtszügen, dem Teint und seinem ganzen Wesen entnehmen konnte – wie es schien, ein Engländer.