Gesammelte Werke von Stefan Zweig. Стефан Цвейг

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Gesammelte Werke von Stefan Zweig - Стефан Цвейг

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des sechzehnten Jahrhunderts, ist alles weniger als einrassig oder reinrassig; er stellt ein Gemenge dar aus iberischen, aus römischen, gotischen, phönizischen, jüdischen und maurischen Vorfahren. Die Urbevölkerung des Landes wiederum zerfällt in ganz artfremde Rassen, die Tupís und die Tapuyas. Und erst die Neger; aus wievielen Zonen des unübersehbaren Afrika waren sie zusammengetrieben! All das hat sich ständig gemischt, gekreuzt und außerdem noch erfrischt durch den ständigen Zustrom neuen Bluts durch die Jahrhunderte. Aus allen Ländern Europas und schließlich mit den Japanern noch aus Asien hier herübergekommen, vervielfältigen und variieren sich diese Blutgruppen in unübersehbaren Kreuzungen und Überkreuzungen ununterbrochen im brasilianischen Raum. Alle Schattierungen, alle physiologischen und charakterologischen Nuancen sind hier zu finden; wer in Rio über die Straße geht, sieht in einer Stunde mehr eigenartig gemischte und eigentlich schon unbestimmbare Typen als sonst in einer anderen Stadt in einem Jahr. Selbst das Schachspiel mit seinen Millionen Kombinationen, von denen keine einzige sich wiederholt, scheint arm gegen dieses Chaos der Varianten, Kreuzungen und Überkreuzungen, in denen sich die unerschöpfliche Natur in vier Jahrhunderten hier gefallen hat.

      Aber wenn beim Schachspiel auch keine Partie der anderen gleicht, so bleibt dieses Spiel doch immer Schach, weil eingeschlossen in den Rahmen desselben Raums und bestimmten Gesetzen unterworfen. Ebenso hat die Gebundenheit im selben Raum und damit die Anpassung an das gleiche klimatische Gesetz sowie der einheitliche Rahmen der Religion und der Sprache unter den brasilianischen Menschen bestimmte unverkennbare Ähnlichkeiten jenseits der Eigenheiten erzeugt, die von Jahrhundert zu Jahrhundert immer sichtbarer werden. Wie Kiesel in einem strömenden Fluß sich mehr und immer mehr abschleifen, je mehr und je länger sie gemeinsam rollen, so ist durch das Zusammenleben und die ständige Durchmischung innerhalb dieser Millionen die scharfe Eigenlinie des Ursprungs immer unmerkbarer geworden und gleichzeitig das Ähnliche und Gemeinschaftliche immer größer. Noch ist dieser Prozeß der fortwährenden Verähnlichung durch fortwährende Vermischung im Gang, noch ist die endgültige Form innerhalb dieser Entwicklung nicht ganz starr und ausgebildet. Aber doch hat der Brasilianer aller Klassen und Stände schon den deutlichen und typischen Stempel einer Volkspersönlichkeit.

      Wer das Charakteristische dieses Brasilianischen von irgendeinem landeigenen Ursprung abzuleiten versuchte, geriete ins Unwahre und Künstliche. Denn nichts ist so sehr typisch für den Brasilianer, als daß er ein geschichtsloser Mensch oder zum mindesten einer mit einer kurzen Geschichte ist. Seine Kultur fußt nicht wie die der europäischen Völker auf uralten, bis in mythische Zeiten zurückreichenden Traditionen, noch kann sie sich wie diejenige der Peruaner und Mexikaner auf eine prähistorische Vergangenheit auf eigener Scholle berufen. Soviel die Nation in den letzten Jahren durch neue Kombinationen und eigene Leistung zugetan, die Aufbauelemente ihrer Kultur sind doch zur Gänze aus Europa importierte. Sowohl die Religion, die Sitte als die äußere und innere Grundform des Lebensstils dieser Millionen und Millionen verdankt wenig oder eigentlich nichts der heimischen Erde. Alle Kulturwerte sind auf Schiffen verschiedenster Art, auf den alten portugiesischen Karavellen, auf den Segelbooten und den modernen Dampfern über das Meer gebracht worden, und auch die pietätvoll-ehrgeizigste Mühe hat bisher einen wesentlichen Beitrag der nackten und kannibalischen Ureinwohner zur brasilianischen Kultur nicht finden oder erfinden können. Es gibt keine prähistorische brasilianische Dichtung, keine urbrasilianische Religion, keine altbrasilianische Musik, keine durch Jahrhunderte bewahrten Volkslegenden und nicht einmal die bescheidensten Ansätze zu einem Kunsthandwerk; wo sonst in den Nationalmuseen der Völkerkunde stolz die tausend Jahre alten Erzeugnisse von autochthoner Schrift-und Werkkunst gezeigt werden, müßte in den brasilianischen Museen eine völlig leere Ecke stehen. Gegen die Tatsache hilft kein Suchen und Nachspüren, und versucht man heute manche Tänze wie Samba oder Macumba als national-brasilianische zu deklarieren, so verschattet und verschiebt man damit künstlich die wirkliche Situation, denn diese Tänze und Riten sind von den Negern gleichzeitig mit ihren Ketten und Brandmarkungen mitgebracht worden. Ebensowenig sind die einzigen Kunstobjekte, die man auf brasilianischem Boden gefunden, die bemalten Tongeräte auf der Insel Marajó, autochthonen Ursprungs; sie sind zweifellos von Angehörigen fremder Rassen, wahrscheinlich von Peruanern, die den Amazonenstrom bis zur Insel an seiner Mündung herunterkamen, mitgenommen oder hier angefertigt worden. Man muß sich also damit abfinden: nichts kulturell Charakteristisches in Architektur und jeder anderen Form der Gestaltung reicht hier weiter zurück als bis in die Kolonialzeit, in das sechzehnte oder siebzehnte Jahrhundert, und selbst deren schönste Produkte in den Kirchen von Bahia und Olinda mit ihren goldstrotzenden Altären und geschnitzten Möbeln sind unverkennbare Schößlinge des portugiesischen oder jesuitischen Stils und kaum unterscheidbar von jenen in Goa oder den eigenen des Mutterlands. Wo immer man im Historischen hier über den Tag zurückgreifen will, da die ersten Europäer landeten, greift man in ein Vakuum, in ein Nichts. Alles was wir heute brasilianisch nennen und als solches anerkennen, läßt sich nicht aus einer eigenen Tradition erklären, sondern aus einer schöpferischen Umwandlung des Europäischen durch das Land, das Klima und seine Menschen.

      Dieses typisch Brasilianische ist allerdings heute schon augenfällig und persönlich genug, um nicht mehr verwechselt zu werden mit dem Portugiesischen, sosehr die Verwandtschaft, die Kindschaft noch fühlbar ist. Unsinnig, diese Abhängigkeit zu leugnen. Portugal hat Brasilien die drei Dinge gegeben, die für die Formung eines Volkes entscheidend sind, die Sprache, die Religion, die Sitte, und damit die Formen, innerhalb deren sich das neue Land, die neue Nation entwickeln konnte. Daß diese Urformen sich unter anderer Sonne und in anderen Dimensionen und bei immer stärker einströmendem fremdem Blut zu einem anderen Inhalt entwickelten, war ein unvermeidlicher, weil organischer Prozeß, den keine königliche Autorität und keine bewaffnete Organisation aufhalten konnte. Vor allem hat sich die Denkrichtung der beiden Nationen voneinander verschieden entwickelt; Portugal, als das historisch ältere Land, träumt zurück in eine große, wohl nie mehr zu erneuernde Vergangenheit, Brasiliens Blick ist in die Zukunft gerichtet. Das Mutterland hat seine Möglichkeiten – in großartigster Weise – schon einmal erschöpft, das neue die seinen noch nicht völlig erreicht. Es ist ein Unterschied nicht so sehr der volksmäßigen Struktur, als eine Verschiedenheit der Generation. Beide Völker, heute in enger Freundschaft verbunden, haben sich nicht einander entfremdet; sie haben sich gewissermaßen nur auseinandergelebt. Deutlichstes Symbol dafür vielleicht die Sprache. In Schrift und Vokabular, also in den Urformen, ist sie heute noch fast vollkommen identisch, und man muß schon das Ohr für die allerletzten Nuancen geschärft haben, um zu erkennen, ob man das Buch eines brasilianischen oder eines portugiesischen Dichters in Händen hält. Anderseits ist kaum ein einziges Wort der Ursprache der Tupís und Tapuyas, wie sie die ersten Missionare noch verzeichneten, in das Brasilianisch von heute übergegangen. Der Brasilianer spricht – dies der ganze Unterschied – das Portugiesische nur anders, eben brasilianischer aus als der Portugiese, und das Merkwürdigste ist, daß dieser brasilianische Akzent, dieser brasilianische Dialekt vom Norden bis zum Süden, vom Osten zum Westen über achteinhalb Millionen Quadratkilometer ein und derselbe geblieben ist, also eine vollkommene Nationalsprache. Noch verstehen sich der Portugiese und der Brasilianer vollkommen, da sie sich derselben Worte, derselben Syntax bedienen, aber in der Intonation und zum Teil auch schon im literarischen Ausdruck beginnen sich diese ursprünglich minimalen Varianten ungefähr in dem gleichen Verhältnis zu verstärken, wie sich Engländer und Amerikaner innerhalb derselben Sprachwelt von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlicher als Individualitäten voneinander absondern. Tausend Meilen Distanz, ein anderes Klima, andere Lebensbedingungen, neue Bindungen und Gemeinsamkeiten mußten sich nach vierhundert Jahren allmählich fühlbar machen, und langsam, aber unaufhaltsam mußte hier ein neuer Typus, eine ganz spezifische Volkspersönlichkeit entstehen.

      Was den Brasilianer physisch und seelisch charakterisiert, ist vor allem, daß er zarter geartet ist als der Europäer, der Nordamerikaner. Der wuchtige, der massige, der hochaufgeschossene, der starkknochige Typus fehlt beinahe vollkommen. Ebenso fehlt im Seelischen – und man empfindet es als Wohltat, dies vertausendfacht zu sehen innerhalb einer Nation – jede Brutalität, Heftigkeit, Vehemenz und Lautheit, alles Grobe, Auftrumpfende und Anmaßende. Der Brasilianer ist ein stiller Mensch, träumerisch gesinnt und sentimental, manchmal sogar mit einem leisen Anflug von Melancholie, die schon Anchieta 1585 und Padre Cardim in der Luft zu fühlen meinten, als sie dieses neue Land desleixada

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