Gesammelte Werke von Stefan Zweig. Стефан Цвейг

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Gesammelte Werke von Stefan Zweig - Стефан Цвейг

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in diesem Klima, das mehr zur Ruhe und zu behaglichem Genießen lockt, nicht jene absurde Überwichtigkeit gewonnen hat, und daß jene wüsten Szenen und tollwütigen Erregungen völlig fehlen, wie sie in unseren sogenannten zivilisierten Ländern an der Tagesordnung sind. Was Goethe auf seiner ersten Italienreise bei den Südländern so sehr sympathisch erstaunte, daß sie nicht ununterbrochen materielle oder metaphysische Zwecke des Lebens suchten, sondern sich des Lebens an sich auf stille und oft lässige Weise freuen, ist hier immer wieder von neuem dankbar zu empfinden. Die Menschen wollen hier nicht zu viel, sie sind nicht ungeduldig. Nach der Arbeit oder zwischen der Arbeit ein bißchen plaudern, Kaffee trinken, frisch rasiert und mit gutgeputzten Schuhen zu flanieren, an seinem Haus, an seinen Kindern seine gute Freude zu haben, ist den meisten genug. Alle Zustände des Behagens, des Glücks sind mit dieser friedlichen Gelassenheit gemischt. Darum ist und war es von je verhältnismäßig so leicht, dieses Land zu regieren, darum brauchte Portugal so wenig Militär und benötigt die Regierung heute so wenig Druck und Nachdruck, um Frieden und Ordnung zu bewahren. Das Zusammenleben im Staat ergibt sich hier mit unendlich viel weniger Haß von Gruppe zu Gruppe und Klasse zu Klasse dank dieser ihnen immanent innewohnenden Friedlichkeit und Neidlosigkeit.

      Im wirtschaftlichen, im erfolgstechnischen Sinne mag dieser Mangel an Impetus, dieses Nicht-gierigsein, Nicht-ungeduldigsein, das an sich individuell für mich eine der schönsten Tugenden des Brasilianers darstellt, ein gewisses Manko sein. Mit Europa oder mit Nordamerika verglichen, bleibt im Tempo die kollektive Arbeitsleistung des ganzen Landes stark zurück, und schon vor vierhundert Jahren hat Anchieta den hemmenden Einfluß verzeichnet, den die erschlaffende Wirkung des Klimas notwendigerweise ausüben muß. Aber man kann diese Minderleistung keineswegs Trägheit nennen. An sich ist der Brasilianer ein ausgezeichneter Arbeiter. Er ist anstellig, schafft und begreift rasch. Man kann ihn zu allem heranbilden, und die aus Deutschland herübergekommenen Emigranten, die neue und oft komplizierte Industrien ins Land übertragen, rühmen einstimmig, mit welcher Wendigkeit und welchem Interesse sich die einfachsten Arbeiter auf neue Formen der Produktion umzustellen wissen. Im Kunsthandwerk zeigen die Frauen viel Geschick und in den Wissenschaften die Studenten regstes Interesse, und es wäre ungerecht im höchsten Maße, den brasilianischen Handwerker oder Arbeiter minderwertig zu nennen. In São Paulo, in einem günstigeren Klima und eingepaßt in eine europäische Organisation, leistet er genau dasselbe, wie irgendein anderer Arbeiter der Welt, aber auch in Rio de Janeiro habe ich hunderte Male beobachtet, wie bis tief in die Nacht die kleinen Schuster und Schneider noch in ihren engen Werkstätten arbeiten, und redlich bewundert, wie auf den Baustellen bei einer infernalischen Sommerhitze, wo es für einen selbst schon eine Anstrengung bedeutet, einen Hut vom Boden aufzuheben, die schwere Arbeit des Lasttragens inmitten der prallen Sonne ohne Pause weitergeht. Es ist also keineswegs die Fähigkeit, die Willigkeit und das Tempo des einzelnen, das zurückbleibt, es fehlt nur im ganzen jene europäische oder nordamerikanische Ungeduld, mittels verdoppelten Einsatzes an Arbeit im Leben doppelt rasch vorwärtszukommen – oder »hochzukommen«, wie man im deutschen Jargon sagt – es ist also eher eine seelische Minderspannung, welche die Gesamtheitsdynamik vermindert. Ein großer Teil der caboclos, besonders in den tropischen Zonen, arbeitet nicht, um zu sparen und zurückzulegen, sondern einzig, um die nächsten paar Tage zu fristen; wie immer in den Ländern, wo die Welt schön ist, die Natur alles bietet, was man zum Leben braucht, die Früchte rings um das Haus einem gleichsam in die Hand wachsen und man für keinen schlimmen Winter vorzusorgen hat, stellt sich eine gewisse Gleichgültigkeit gegen Gewinn und Sparsinn ein; man hat es nicht eilig mit dem Geld und auch nicht mit der Zeit. Warum durchaus heute dies liefern oder schaffen? Warum nicht morgen – amanhã, amanhã – warum in einer so paradiesischen Welt sich übereilen? Pünktlichkeit gilt hier höchstens insofern, als jede Vorlesung, jedes Konzert ziemlich pünktlich eine Viertel-oder halbe Stunde später anfängt als angesagt; stellt man seine Uhr richtig darauf ein, so versäumt man nichts und paßt sich selber an. Das Leben an sich ist hier wichtiger als die Zeit. Oft geschieht es – so berichtete man mir zu übereinstimmend, als daß ich es bezweifeln könnte – daß am Tage nach der Lohnauszahlung der Arbeiter einfach zwei, drei Tage ausbleibt. Er hat fleißig und flink die letzte Woche seine Pflicht getan und genug verdient, um in bescheidenster, allerbescheidenster Weise noch zwei Tage ohne Arbeit zu leben. Wozu dann diese zwei Tage noch arbeiten? Reich kann er von den paar Milreis ohnehin nicht werden, also lieber diese zwei oder drei Tage in stiller und behaglicher Weise genießen, und vielleicht muß man die Üppigkeit der Welt hier gesehen haben, um dies zu verstehen. Während in einem grauen und öden Flachland Arbeit die einzige Rettung des Menschen vor der Freudlosigkeit des Daseins ist, erweckt innerhalb einer so reichen, von Früchten überquellenden und durch Schönheit beglückenden Natur das Leben den Wunsch nicht so heftig und so wild wie bei uns, reich zu werden. Reichtum ist in der Vision des Brasilianers keineswegs mühsame Aufhäufung von gespartem Geld aus unzähligen Arbeitsstunden, nicht Resultat eines rasenden und nervenzerrüttenden Antriebs. Der Reichtum ist etwas, wovon man träumt; es soll vom Himmel kommen, und die Funktion dieses Himmels ersetzt in Brasilien die Lotterie. Das Lotto ist in Brasilien eine der wenigen sichtbaren Leidenschaften dieses äußerlich so stillen Volkes und die tagtägliche solidarische Hoffnung von Hunderttausenden und Millionen. Ununterbrochen dreht sich das Glücksrad, jeden Tag ist neue Ziehung. Wo man geht und wo man steht, in jedem Geschäft und auf der Straße, auf dem Schiff und in der Bahn werden einem Lose angeboten, und jeder Brasilianer kauft Lose mit dem, was er von seinem Wochenlohn gerade übrig hat, der Friseurgehilfe, der Schuhputzer, der Gepäckträger, der Angestellte und der Soldat. Um eine bestimmte Nachmittagsstunde sieht man dann wie eine schwarze Geschwulst dicke Ansammlungen von Menschen vor den Ziehungsstellen, in allen Häusern und Geschäften ist das Radio aufgedreht, die Erwartung einer ganzen Stadt oder vielmehr des ganzen Landes ist in diesem Augenblick auf eine einzige Ziffer und eine einzige Zahl gestellt. Die oberen Schichten wieder spielen in den Kasinos, und fast jeder Kurort, jedes vornehme Luxusetablissement hat das seine. Monte Carlo ist hier verdutzendfacht, und selten sieht man einen der Tische nicht umdrängt. Aber noch nicht genug an dem. Zu diesem aus Europa importierten Spiel, dem Lotto, dem Baccarat und dem Roulette, hat sich die Bevölkerung hier noch ein eigenes brasilianisches Nationalspiel erfunden, das bicho, das sogenannte Tierspiel, das zwar von der Regierung streng verboten ist, aber trotz aller Verbote auf das fleißigste gespielt wird.

      Dieses Bicho, dieses Tierspiel, hat eine sonderbare Entstehungsgeschichte, die an sich schon deutlich zeigt, wie sehr diese Leidenschaft für das Hasard dem träumerischen und naiven Charakter dieses Volkes zutiefst entspricht. Der Direktor des Zoologischen Gartens in Rio de Janeiro hatte über schlechten Besuch zu klagen. So kam er, seine Landsleute genau kennend, auf die gloriose Idee, daß jeden Tag ein bestimmtes Tier seines zoologischen Gartens, einmal der Bär, einmal der Esel, einmal der Papagei, einmal der Elefant ausgelost wurde. Wessen Besucherkarte diesem Tier entsprach, dem wurde dann der zwanzig-oder fünfundzwanzigfache Eintrittspreis ausbezahlt. Sofort stellte sich der erwünschte Erfolg ein: der Tiergarten wurde durch Wochen von Menschen überfüllt, die eigentlich weniger kamen, um die Tiere sich anzusehen, als die Prämie zu gewinnen. Schließlich wurde es ihnen zu weit und zu mühsam, immer wieder in den Tiergarten zu gehen. So spielten sie privatim untereinander, welches Tier an diesem Tage ausgelost werden würde. Kleine Winkelbanken taten sich hinter Schanktischen und an den Straßenecken auf, welche den Einsatz aufnahmen und die Gewinne ausbezahlten. Als dann die Polizei das Spiel verbot, wurde es auf geheimnisvolle Weise dem jeweiligen Lottoresultat angegliedert, in dem jede Ziffer für einen Brasilianer ein bestimmtes Tier darstellte. Um der Polizei jeden Beweis zu entziehen, wird auf Treu und Glauben gespielt. Der Winkelbankier stellt keine Bescheinigung für seine Klienten aus, aber es ist kein einziger Fall bekannt, wo er seine Verpflichtung nicht verläßlich eingehalten hätte. Dieses Spiel hat, vielleicht gerade um des Verbotenen willen, alle Kreise erfaßt, jedes Kind in Rio weiß schon, kaum es in der Schule zählen gelernt hat, welche Zahl jedes Tier darstellt, und kann die ganze Liste besser heruntersagen als das Alphabet. Alle Autoritäten, alle Strafen haben sich als illusorisch erwiesen. Denn wozu träumt der Mensch des Nachts, wenn er dann nicht morgens seinen Traum in Ziffer und Zahl, in Tier-und Lottospiel umsetzen dürfte? Wie immer haben sich die Gesetze machtlos erwiesen gegen eine wirkliche Volksleidenschaft, und immer wieder wird der Brasilianer, was ihm an Raffgier fehlt, kompensieren durch diesen täglichen Traum von plötzlichem Reichwerden.

      Es

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