Gesammelte Werke von Stefan Zweig. Стефан Цвейг
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Und dieser ziellose ungebärdige Trieb ließ sie in den Gassen irren, ohne einen Entschluß. Die Wirklichkeit lag in weiter, weiter Ferne. Sie wußte nicht, wohin sie ging, in ihren Füßen war bleierne Müdigkeit, aber auch eine irre Bewegung, die sie weiter stieß. Immer mehr hüllte sie sich in ihre Gedanken, um den Schmerz, der jetzt wach werden wollte, wegzudenken und ihn im raschen Gehen zu vergessen; doch sie spürte einen Druck von Tränen, die noch nicht hervorbrechen konnten, aber innen brannten und tropften…
Auf einmal stand sie vor einer Brücke. Unten der Fluß, schwarz und langsam gleitend, mit vielen hellen, glitzernden Punkten. Sterne waren das und Reflexe von den Brückenlaternen, die hinaufstarrten wie aufgerissene Augen. Und von irgendwo ein leises unaufhörliches Plätschern, die Strömung, die sich an einem Pfeiler bricht.
Einen Todesgedanken barg dieser Anblick, das fühlte sie. Ein Beben überlief ihren Körper. Sie wandte sich um. Es war niemand in der Nähe, hie und da schwarze Schatten, die vorüberhuschten. Manchmal ein Lachen aus der Ferne oder das Rollen eines Wagens. Aber in der Nähe niemand, keiner, der sie hindern könnte. Wie leicht, wie rasch das war; ein Griff, ein Schwung über die Rampe, dann noch ein paar häßliche ringende Minuten unten, dort unten in dieser schweigsamen Dunkelheit und dann Friede… reicher, ewiger Friede, fern von allen Wirklichkeiten, der beruhigende Trost des Nichtwiedererwachens…
Aber dann ein anderer Gedanke! Eine verunstaltete Leiche, die man aus dem Wasser zieht, Neugierige, die sich belustigen, Gerede und Geschwätz – es tat ja nicht mehr weh! Aber einer war, der könnte es erfahren und dann vielleicht selbstbewußt lächeln, im Bewußtsein eines Siegers… Nein – das durfte nicht sein! Das Leben war noch nicht erschöpft, das fühlte sie, denn es konnte noch Rache bergen, den letzten tastenden Versuch einer Verzweiflung. Und vielleicht war es sogar schön, und sie hatte nur falsch gelebt, sie war gut und vertrauend gewesen, mild und zurückhaltend, während man rücksichtslos, gierig und verschlagen sein sollte, wie ein Raubtier, das sich von fremdem Leben nährt.
Ein Lachen rang sich ihr aus der Brust, wie sie sich von der Brücke abwendete, ein Lachen, vor dem sie erschrak. Denn sie fühlte, wie sie sich selbst nicht ihre ungesprochenen Worte glaubte. Nur der Schmerz war wahr, und der glühende brennende Haß, die blinde Sucht nach Rache. Wie fremd sie sich doch geworden war, daß sie sich nicht einmal selbst mehr erkannte, wie schlecht und wie wertlos!
Ihr fröstelte. Sie wollte an nichts mehr denken. Sie ging wieder tiefer in die Stadt hinein… irgend wohin… nach Hause zu… Nein – nicht nach Hause! Mit Furcht dachte sie daran. Dort war alles so finster und eng und dumpf, dort lauerten in allen Ecken Erinnerungen, die mit hämischen Fingern auf sie deuteten, dort war sie dann ganz allein mit ihrem großen Schmerz, dort konnte er seine schwarzen Flügel dicht ausbreiten, sie umfassen und eng, ganz eng an sie pressen, daß ihr der Atem verginge.
Aber wohin? Wohin? Die Frage zermarterte ihr das Hirn. Sie wußte nichts anderes mehr, ihr ganzes Denken konzentrierte sich in dieses eine Wort. –
Neben ihr lief ein Schatten.
Sie achtete nicht darauf.
Sie merkte es auch nicht, als er sich hart gegen den ihren neigte und mit ihm eine Zeitlang parallel lief. Jemand ging neben ihr, ein Freiwilliger, und betrachtete ihr Gesicht angelegentlich in dem Momente, als sie vor einer Laterne vorbeikamen. Erst wie er sie höflich ansprach, fuhr sie jäh aus ihren Gedanken auf. Sie brauchte einige Momente, um die Situation, in der sie sich befand, erst recht zu erfassen und antwortete nicht.
Der Freiwillige, ein Kavallerist, sehr jung noch und ein bißchen ungeschickt, ließ sich durch ihr Schweigen nicht einschüchtern, sondern redete in einem halb vertraulichen Ton, aber mit einer gewissen Reserve weiter. Offenbar war er mit sich nicht recht im klaren, mit wem er es eigentlich zu tun hätte; sie hatte ihm nicht geantwortet und war doch so vornehm – solid gekleidet. Und andererseits wieder dieses einsame langsame Spazierengehen spät in der Nacht – ganz recht bekam er’s nicht heraus. Aber er redete unbekümmert weiter.
Erika schwieg. Instinktiv hatte sie ihn abweisen wollen, aber alle Dinge von früher hatten sie auf seltsame Gedanken gebracht. Sie wollte doch jetzt ein anderes Leben beginnen, nicht mehr dieses traumvolle Dahindämmern und müßige Sichsehnen, das ihr tausend Leiden geboren, es sollte ja für sie ein neues Leben beginnen, heiß verwegen und voll wilder Gewalt. Und dann dachte sie wieder an ihn – eine Rache wollte sie nehmen, eine furchtbare Schmach. Dem ersten besten, der gekommen, wollte sie sich verschenken; weil er sie verschmäht, die Erniedrigung auskosten bis zum letzten bittersten und vielleicht tödlichen Tropfen. Alles wurde rasch in ihr Plan und Entschluß, eine grausame Selbstpeinigung, die eine neue Schmach wählt, um die alte brennende zu vergessen… wie sie zurecht kam, die Gelegenheit… ein junger Mensch, ganz jung, der nichts davon verstand, nichts wußte, der sollte es sein, der erste beste…
Und plötzlich antwortete sie ihm mit so hastiger Liebenswürdigkeit, er dürfe sie begleiten, daß er beinahe wieder schwankend wurde, mit wem er es zu tun hätte. Aber ein paar Fragen, das Opernglas, das sie vom Konzert mitbrachte und ihr vornehmes Benehmen, veränderten seine oberflächliche Haltung zu ihr. Er blieb recht befangen. Eigentlich war er noch ein halbes Kind, das in einer Uniform sich so seltsam ausnahm, wie in einem kriegerischen Maskenkostüm; und seine bisherigen Abenteuer waren so simpler Natur gewesen, daß sie keine Abenteuer mehr waren. Zum ersten Mal sah er sich einem wirklichen Rätsel gegenüber. Denn manchmal blieb sie Minuten still und unbeweglich, überhörte alle Fragen und ging wie im Traum, bis sie dann plötzlich wie mit einer provozierten Zärtlichkeit, die sie im Augenblick vergessen hätte, mit ihm lachte und scherzte; aber manchmal wollte es selbst ihm so erscheinen, als sei im Lachen ein falscher Ton.
Und in der Tat kostete es Erika nicht geringe Mühe, die Rolle einer Entgegenkommenden und Leichtsinnigen zu spielen, während ihr die tollsten Gedankenreihen durch den Kopf schwirrten. Sie wußte, was das Ende sein würde, und sie wollte es, aber eine geheime Angst beschlich sie immer wieder, daß sie gegen sich selbst frevle. Aber das Bedürfnis nach Rache, das sich positiv nicht betätigen konnte, hatte hier ein Mittel gefunden, sich zu entfalten, wenn auch in einer falschen Richtung, die die Spitze gegen sich selbst kehrte, aber es war so überströmend und machtvoll, daß sich ihre frauenhaften Empfindungen vergebens dagegen aufbäumten. Mochte geschehen, was da wolle, sollte eine Reue kommen… nur nichts wissen von jener Schmach… nur vergessen, wenn auch in einem Rausch, einem künstlichen und einem verderblichen… aber nur nicht mehr daran denken müssen…
So nahm sie auch gern den Vorschlag des Freiwilligen an, mit ihr in ein Restaurant in ein separiertes Zimmer zu gehen, obwohl sie dumpf ahnte, was das bedeutete. Aber sie wollte nicht daran denken… nur nicht sich immer besinnen müssen…
Zuerst kam ein kleines Souper, dem sie aber nicht zusprach. Aber Wein trank sie, in gieriger Hast, Glas auf Glas, um sich zu betäuben. Ganz gelang ihr es noch nicht. Manchmal übersah sie die ganze Situation mit furchtbarer Klarheit. Sie betrachtete ihr Gegenüber. Das war eigentlich der Rechte, besser hätte sie sich ihn nicht wünschen können: ein guter Kerl, von einer gesunden rotwangigen Derbheit, ein bißchen eitel und nicht zu klug… der würde nie ahnen, was in dieser Nacht geschehen sei, was für eine Rolle er gespielt in einem armen gequälten Menschenleben… der würde sie übermorgen vergessen haben. Und das wollte sie…
In solchen Augenblicken der Überlegung bekamen ihre Augen einen träumerischen Ausdruck, und in ihrem Gesichte zeichnete sich der düstere Schatten eines inneren Schmerzes. Dann kam sie langsam ins Träumen hinein… ihre Finger zitterten leise… sie hatte alles vergessen, und die fernen versunkenen Bilder wollten langsam, ganz langsam wieder auftauchen…
Dann erweckte sie wieder plötzlich ein Wort oder eine Berührung. Eine Sekunde brauchte sie immer, um sich wieder recht in alles hineinzufinden, aber dann faßte sie wieder ein Weinglas und leerte es