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Da plötzlich ein schriller Signalpfiff, der wilde warnende Schrei der Lokomotive und das klägliche knirschende Stöhnen der Bremse. Und verlangsamt der Rhythmus der fliegenden Räder, langsamer und langsamer, dann ein ratterndes Stammeln und ein stockender Stoß…
Mühsam tappt sie zum Fenster, um die kühle Luft zu trinken. Die Scheibe rasselt nieder. Draußen schwarze, stürmende Gestalten… fliegende Worte von wechselnden Stimmen: ein Selbstmörder… Unter den Rädern… Tot… Auf freiem Feld…
Sie zuckt zusammen. Instinktiv trifft ihr Blick den hohen schweigenden Himmel und drüben die schwarzen rauschenden Bäume. Und über ihnen ein einsamer Stern über dem Walde. Sie fühlt seinen Blick wie eine funkelnde Träne. Sie sieht ihn an und spürt jählings eine Traurigkeit, wie sie sie nie gekannt. Eine Traurigkeit voll Glut und Sehnsucht, wie sie in ihrem eigenen Leben nie war…
Langsam rattert der Zug wieder weiter. Sie lehnt in der Ecke und spürt leise Tränen über die Wangen tropfen. Die dumpfe Angst ist gewichen, sie fühlt nur noch einen tiefen seltsamen Schmerz, dessen Spur sie vergebens nachsinnt. Einen Schmerz, wie ihn verschreckte Kinder haben, wenn sie in finstrer undurchdringlicher Nacht plötzlich erwachen und fühlen, daß sie ganz einsam sind…
Die Wanderung
E. M. Lilien
dem Künstler und dem Freunde
Dunkle Gerüchte waren durch das Land gezogen und seltsame Worte, als sollte die Zeit sich erfüllt haben und der Messias nahe sein. Immer häufiger kamen Männer von Jerusalem zu den kleineren Orten Judäas und erzählten von Zeichen und Wundern, die sich ereignet hatten. Und wenn sie zu wenigen beisammen waren, dann senkten sie ihre Stimmen geheimnisschwer, um von dem seltsamen Manne zu künden, den sie Meister nannten. Allerorts hörte man sie dann gerne und glaubte ihnen mit banger Zuversicht, denn die Sehnsucht nach dem Erlöser war drängend und reif geworden im Volke, wie eine Blüte, die ihren Kelch zersprengt. Und wenn man der Verheißungen in den heiligen Büchern gedachte, so nannte man seinen Namen, und ein hoffnungsfrohes Leuchten flammte in den Blicken.
Damals lebte auch ein Jüngling im Lande, dessen Herz gläubig war und erwartungsvoll. Die armen Pilger, die des Weges von Jerusalem kamen, lud er in sein Haus, daß sie ihm vom Heilande berichteten, und wenn sie von ihm sprachen und von seinen wunderseligen Taten und Worten, da fühlte er einen dumpfen Schmerz im Herzen, denn sein Verlangen wurde jäh und ungestüm, das Angesicht des Erlösers zu schauen. Tag und Nacht träumte er von ihm, und seine rastlose Sehnsucht formte tausend Bilder seines Antlitzes voll Güte und Milde, er aber fühlte, daß sie doch nur stammelnde Abbilder einer großen Vollendung seien. Und ihm war, als müßte alle Unrast und Schmerzlichkeit seiner jungen Seele schwinden, dürfte er nur einmal den leuchtenden Glanz tragen, der von dem Herrn ausging. Noch aber wagte er es nicht, Heimat und Arbeit zu verlassen, die ihn ernährten, und dorthin zu gehen, wohin ihn seine Sehnsucht wies.
Einmal aber erwachte er plötzlich in tiefer Nacht aus einem Traum. Er vermochte sich seiner nicht mehr zu besinnen, nicht einmal, ob er ihm Glück gegeben oder einen Schmerz; er fühlte nur so, als ob ihn jemand von ferne gerufen hätte. Und da wußte er, daß der Heiland ihn zu sich entboten. Im schwersten Dunkel erwuchs ihm noch der jähe Entschluß, daß er nun nicht mehr zaudern dürfe, seines Herrn Angesicht zu schauen, und der sehnsüchtige Drang ward so siegreich und mächtig in ihm, daß er sich sogleich ankleidete, einen starken Wanderstab nahm und, ohne jemandem ein Wort zu sagen, aus dem schlummernden Hause ging, den Weg gegen Jerusalem zu.
Helles Mondlicht lag auf der Straße, und der Schatten seiner hastenden Gestalt eilte vor ihm her. Denn sein Schritt war beschleunigt und beinahe ängstlich; es schien, als wollte er das monatelange Versäumnis in dieser einen Nacht wett machen. In ihm bangte ein Gedanke, den er sich kaum zu sagen wagte: es könnte zu spät sein, und er würde den Heiland nicht mehr finden. Und manchmal überkam ihn auch die bange Furcht, er könnte den Weg verfehlen. Aber dann gedachte er des innigen Wunders, das er vernommen von drei Königen aus fernem Lande, die ein leuchtender Stern durch das Dunkel geführt. Und da verließ wieder die lästige Schwere seine Seele, und der eilende Wanderschritt hallte sicher und fest auf dem harten Pfade.
Einige Stunden eilte er so dahin, dann ward es Morgen. Langsam hob sich der Nebel und zeigte das farbensatte Hügelland mit seinen fernen Bergen und hellen Gehöften, die zur Rast einluden. Er aber hielt nicht inne auf seiner Wanderung, sondern strebte unablässig weiter. Langsam stieg die Sonne höher und höher. Und es ward ein heißer Tag, der sich schwer über das Land legte.
Bald wurde sein Schritt langsamer. Lichte Schweißperlen tropften von seinem Körper, und das schwere Feiertagsgewand begann ihn zu drücken. Zuerst legte er es über die Schulter, um es zu bewahren, und ging in ärmlicher Gewandung dahin. Bald aber begann er die Schwere der Last zu fühlen und wußte nicht mehr, was er mit dem Kleide beginnen sollte. Er wollte es nicht weggeben, denn er war arm und hatte kein anderes Feiertagsgewand, so daß er schon daran dachte, es im nächsten Dorfe zu verkaufen oder als Pfand für Geld zu geben. Aber als ein Bettler mühselig des Weges daherkam, dachte er seines fernen Meisters und schenkte das Gewand dem Armen.
Eine kurze Zeit ging er wieder rüstiger, doch dann verlangsamte sich von neuem sein Gang. Die Sonne stand schon hoch und heiß, und die Schatten der Bäume fielen nur als schmale Streifen über den staubigen Weg. Sehr selten kam ein schwacher Wind durch die stockende Mittagsschwüle, der aber trieb den breitkörnigen und schweren Staub der Straße mit sich, der sich an den schweißüberströmten Körper klebte. Und er fühlte ihn auch auf den vertrockneten Lippen brennen, die lange nach einem Trunke lechzten. Aber die Gegend war gebirgig und öde, nirgends war ein frischer Quell zu sehen oder ein gastliches Haus.
Manchmal kam ihm der Gedanke, er sollte umkehren oder doch wenigstens im Schatten einige Stunden rasten. Aber eine immer wachsende Unruhe trieb ihn weiter mit schwankenden Knieen und lechzenden Lippen seinem Ziele entgegen.
Inzwischen war es Mittag geworden. Die Sonne brannte heiß und stechend vom wolkenlosen Himmel herab, und die Straße glühte unter den Sandalen des Wanderers wie flüssiges Erz. Seine Augen waren rot und geschwollen vom Staube, der Gang wurde immer unsicherer, und die ausgetrocknete Zunge vermochte nicht mehr den seltenen Vorüberwandernden den frommen Willkommengruß zu erwidern. Längst hätten alle Kräfte versagt, aber es war, als triebe der Wille allein ihn noch vorwärts und die furchtbare Angst, er könnte sich verspäten und möchte das leuchtende Antlitz nicht mehr schauen, das seine Träume erhellte. Und der höhnische Gedanke, daß er ihm schon nahe sei, nur mehr zwei armselige Stunden von der heiligen Stadt, drohte ihm das Gehirn zu zersprengen.
Bis zu einem Hause am Wege schleppte er sich noch fort. Mit letzter Kraft warf er den knorrigen Wanderstab gegen die Tür und bat die öffnende Frau mit trockener und fast unhörbarer Stimme um einen Trunk. Dann brach er ohnmächtig über der Schwelle zusammen.
Als er wieder zur Besinnung erwachte, fühlte er wieder sichere und frische Kraft in seinen Gliedern. Er fand sich in einem kleinen Raum von wohltuender Kühle auf einem Ruhebette ausgestreckt. Und überall die Spuren einer mildtätig-sorglichen Hand; sein glühender