Morde am Fließband: Kriminalgeschichten. Alexis Willibald
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Gleich als suche er einen verborgenen Schatz, von dessen Dasein er dunkle Kunde hatte, durchstreifte er sein Haus vom Keller bis zum höchsten Boden. Er wollte in der Örtlichkeit den geheimen Grund entdecken, warum er krank sei und so viele vor ihm krank geworden seien. Er dachte an eine verderbliche Zugluft und schloß und öffnete alle Türen und stopfte alle Ritzen. Vielleicht dunstete der Fußboden, irgendein vermodernder Stoff brütete dort Gift. Er roch, atmete und lüftete die Dielen: alles vergebens.
Fast erlag er schon dieser doppelten Pein und kämpfte einen neuen Kampf, ob es wirklich geheimnisvolle Mächte gäbe, welche die Sinne der Menschen verrückten und ihren Körper heimlich verwüsteten. Da erschien die Tante Gottfried als einziger Trost des armen Leidenden. Sie pflegte ihn mit mehr als mütterlicher Sorgfalt. Jeden Morgen war sie die Erste, sich zu erkundigen, wie er geruht habe, und wenn sie hörte, daß er wieder eine qualvolle Nacht durchwacht habe, wünschte sie ihm nur etwas von dem sanften Schlafe, womit Gott sie erquicke.
Dieses Leiden dauerte jahrelang, ohne daß in Rumpfs Seele der geringste Verdacht aufstieg. Später entsann er sich wohl, daß die Magd ihm – etwa zwischen Ostern und Pfingsten 1827 – einmal Salat gebracht hatte, auf dessen Blättern er etwas Weißes, Zuckerähnliches bemerkt hatte. Da er süßen Salat nicht liebte, schalt er und ließ ihn wegwerfen. Später hatte er auch in einer Tasse Bouillon einen dicken weißen Bodensatz bemerkt; nach der Bouillon hatte er an heftiger Übelkeit gelitten. Erst im März 1828 sollte die Entdeckung erfolgen.
Er hatte sich für seine Haushaltung ein Schwein schlachten lassen. Von einem ausgesuchten Stücke, welches ihm der Schlächter brachte, genoß er einen Teil und verschloß das übrige in einen Schrank. Das Fleisch war ihm wider Gewohnheit sehr wohl bekommen; also wollte er am folgenden Tage den Rest verzehren. Bei der Öffnung des Schrankes bemerkt er, daß der Speck nicht mehr die gestrige Lage hatte. Er hatte ihn mit der Schwarte nach unten gelegt: jetzt findet er die Schwarte oben. Als er den Speck umkehrt, entdeckte er zu seinem Erstaunen darauf wieder solche weißliche Körner wie früher auf dem Salat und in der Bouillon. Tante Gottfried, die herbeigerufen wird, erklärt es für Fett. Aber jetzt steigt eine Ahnung in dem Unglücklichen auf, er schweigt und ruft in der Stille seinen Hausarzt. Die weiße Substanz wird abgestreift, durch einen geschickten Chemiker untersucht, und es findet sich darin eine nicht unbedeutende Beimischung Arsenik.
Dies geschah am 5. März; schon am 6. März wurde dem Kriminalgericht Anzeige gemacht, und nachdem dasselbe eine summarische Vernehmung der Zeugen veranlaßt hatte, begab sich eine Kommission in das Rumpfsche Haus. Die Gottfried wurde, angeblich krank, im Bette gefunden. Nach einem Verhör, das sie noch verdächtiger machte, wurde sie indessen beim Eintritt des Abenddunkels zur vorläufigen Verhaftnahme ins Stadthaus abgeführt.
Noch am gleichen Abend verbreitete sich das Gerücht davon. Eine in allgemeiner Achtung stehende Frau hatte ihre Hand in Gift getaucht, um das Leben eines Familienvaters zu verderben, mit dem sie in freundschaftlichsten Beziehungen stand. Staunen und Erschrecken bemächtigte sich aller Bewohner einer friedlichen, wegen ihres Religionseifers berühmten Stadt, in deren Mauern so selten ein Kapitalverbrechen vorfällt. Aus dem Schrecken aber wurde Entsetzen, als man mit dem einen ausgesprochenen Falle die bisherigen dunklen Todesfälle in dem Unglückshause in Verbindung brachte, Ahnungen stiegen auf, die man auszusprechen zauderte, und doch sollte die Wirklichkeit noch diese Ahnungen an Gräßlichkeit übertreffen und ein Ungeheuer ans Licht gezogen werden, das an Scheinheiligkeit, Mordlust und Furchtbarkeit alle bisher bekannten Verbrecherinnen weit hinter sich ließ.
Der Name Gottfried schwebte auf allen Zungen, bei jedem Gespräch, in jeder Gesellschaft war sie das Losungswort, und weit über das Weichbild der Stadt Bremen hinaus, ja man kann wohl sagen, in aller Welt wurden ihre Taten mit Entsetzen erzählt, wurde ihr Name mit Abscheu genannt. Aber ehe noch das volle Maß der ersteren ermittelt war, hatte sich schon die Sage derselben bemeistert, und das Gerücht vervollständigte das Gräßliche in der Art, wie es der Fassungskraft der großen Menge zugänglicher ist.
Der Heißhunger nach dem Entsetzlichen liegt in der menschlichen Natur, unzertrennbar von dem Hange nach dem Wunderbaren. Hier aber war es sehr erklärlich, daß die ungeläuterte Wißbegierde des Volkes zu dem Unerhörten auch einen wunderbaren Schlüssel suchte; der psychologische wurde erst nach unsäglicher Mühe und nach Jahren von wissenschaftlichen Männern gefunden. Was davon erfuhr das Volk? Eines ausführlichen Werkes bedurfte es, um nur die gebildete Welt über die Motive und den inneren Organismus dieser Verbrecherin ohne Beispiel aufzuklären; was aber konnte man davon dem Volke geben, dem man doch die schreienden Tatsachen nicht verbergen konnte? Es lag also in der Natur der Dinge, daß das Volk sich selbst einen Schlüssel zu all dem Entsetzlichen suchte, das zutage gekommen war.
Im Stadthause versuchte die Gottfried anfänglich zu leugnen; aber ihr ganzes zusammengeknicktes Wesen verriet die Verbrecherin, deren Kraft und Mut dahin war mit dem Scheine, den sie durch so lange Jahre aufrechterhalten hatte. Mit Erstaunen und Entsetzen zogen die Wärterfrauen der wohlgebildeten Madame Gottfried, als sie ihr der Vorschrift zufolge die Kleider wechseln mußten, dreizehn Korsetts, eines über dem andern, aus. Ihre lieblichen roten Wangen waren Schminke, und nachdem alle Toilettenkünste entfernt waren, stand an der Stelle der blühenden, wohlbeleibten Dame vor den erschreckten Weibern ein blasses, angstvoll verzerrtes Gerippe. Aber mit dem äußeren Scheinbild sank zu gleicher Zeit das moralische Trugbild zusammen, das sie seit zwanzig Jahren und mehr vor den Menschen zur Schau getragen hatte. Die Kraft zur Lüge, welche ihr Wesen zusammenhielt, zerbrach. Dazu erwachten und sprachen in ihr plötzlich die allerfurchtbarsten Traumbilder. Sie bekannte, aber nicht gestachelt von Gewissensunruhe, nicht gerührt durch den Zorn Gottes, sondern weil sie nicht mehr Kraft hatte, die Lügen aufrechtzuerhalten. Das Bekenntnis erfolgte nicht mit einem Male, es war ein fortgesetztes zweijähriges Bekennen, und auch dies Bekennen war ein fortgesetztes neues Lügengewebe: nicht mehr jene großartige Lüge, keine, die sie vom Untergang hätte retten können, sondern ein kleinliches Ableugnen, durch das sie, nachdem das Gräßlichste heraus war, noch hier und dort einen Anhalt, eine kleine Entschuldigung zu gewinnen hoffte; noch letzte Versuche, mit sich schön zu tun und das Mitleid und Interesse für sich anzuregen.
Das ungeheure Leichentuch, unter dem eine noch jetzt vielleicht nicht ganz bestimmt ermittelte Zahl von Opfern ruhte, konnte weder sie selbst mit einem Male aufdecken, noch wagten es ihre Richter, die so Unerhörtes gern selbst dämonischen Einflüssen beigemessen hätten. Die Gottfried hatte nach den ersten Verhören schon genug bekannt, um das Leben zehnfach verwirkt zu haben; die Untersuchung wurde deshalb nicht mit der Eile geführt, die bei anderen Verbrechen nötig ist, um Spuren, die verloren gehen könnten, zu verfolgen. Man durfte vielmehr, da der rächenden Gerechtigkeit auf jeden Fall ihr Recht ungeschmälert blieb, den wissenschaftlichen und humanioren Rücksichten nachgeben, um das furchtbare Rätsel eines so entarteten menschlichen Wesens gründlich zu studieren. Rechtsgelehrte, Theologen, Mediziner experimentierten an dieser Rarität, und eben um dieser Absichten willen hegte man das moralische Scheusal und pflegte es mit einer rücksichtsvollen Menschlichkeit, welche über die Begriffe von dem Verhältnis zwischen dem Richter und dem Verbrecher, wie sie in früheren Jahrhunderten geherrscht hatten, gegangen wäre.
Nie war wohl ein Strafurteil begründeter als das, welches auf Grund der Verhandlungen die Gottfried zum Tode verdammte. Die Aktenberge schienen das Tatsächliche erschöpft zu haben; und doch liefern sie nur einen Beleg für die Mangelhaftigkeit aller menschlichen Einrichtungen. Der äußere Mensch, die Gottfried, wie sie straffällig vor dem Gesetz erscheint, ist darin vielleicht splitternackt dargestellt. Aber durch kein artikuliertes Verhör und durch keine Protokolle, die ein Richter führt, kann eine Erscheinung wie die ihre psychologisch ergründet werden. Um die feineren Fäden zu verfolgen, wie aus der menschlichen Natur ein solches entmenschtes Wesen werden konnte, sind die Federn der Gerichtsstube und das Aktenpapier zu grob. Es ginge auch vielleicht über die richterliche Aufgabe hinaus. Die Akten, so klares