Morde am Fließband: Kriminalgeschichten. Alexis Willibald
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Die Tochter schien vollkommen in die Begriffe ihrer Eltern von Ordnungsliebe und Ehrbarkeit einzugehen. Sie zeigte sich genügsam und erfreut über das Kleinste, war über das Kuchenbrot, das ihr als Geburtstagsgeschenk gereicht wurde, entzückt und betete alle Gebete, welche die Mutter sie für alle Verrichtungen des Lebens gelehrt hatte, mit buchstäblicher Treue. Sie trug die Almosen für Vater und Mutter aus, und schon früh war es ihr eingeprägt, daß solche Taten der Wohltätigkeit hohen Wert hätten und die Danksagung der Armen zu Verheißung göttlicher Vergeltung würden; ein Wahn, der später von furchtbarem Einfluß auf ihr Leben wurde. Aber sie gehörte auch zu den weichen, reizbaren Seelen, die, jedem Gefühl und aufregenden Einfluß offen, leicht zu Tränen gerührt werden. Des Vaters frommes Morgenlied, die stille Ordnung des Hauswesens erfüllten oft das Herz des Mädchens mit lebhafter Rührung; auch religiösen Eindrucken blieb sie nicht verschlossen, obschon der amtliche Religionsunterricht ohne Wirkung auf sie geblieben zu sein scheint. Aber es war eine leichte Erregbarkeit, die mehr den Nerven angehörte und die Seele nicht berührte. So weinte sie auch später und konnte aufs tiefste gerührt scheinen, war es auch vielleicht für den Augenblick, wenn ihr Opfer unter den entsetzlichsten Qualen verschied. Aber die Summa dessen, was sie im elterlichen Hause erlernte, war der Schein eines Wertes, den sie nicht besaß. Denn die Zuneigung der Eltern wurde bald eine blinde, grenzenlose, die dem Mädchen von hellem Kopfe nicht unbekannt blieb und ihr ein Bewußtsein einimpfte, welches sie aus der Sphäre ihres wirklichen Seins in einen leeren Zustand besseren Scheins erhob.
Geiz und eigentliche Habsucht blieben ihr, auch als sie auf der Laufbahn des Verbrechens raschen Schrittes forteilte, immer fremd; selbst die Genußsucht war kein Motiv, das sie bei ihren Handlungen beherrschte; sie hatte kein heißes Blut, keine starken Leidenschaften. Nur als die Sünde auf anderen Wegen ihrer Meisterin geworden war, ließ sie das Weib, das nun ihre Sklavin war, alle Laster auskosten, indem mit der einen alle Schranken der Tugend gebrochen und gefallen waren. Aber es war der Ehrgeiz, in jener vornehmeren, ausgezeichneteren Sphäre, in die sie der Zufall und die Gunst der Menschen versetzt hatten, sich zu erhalten, es war die Eitelkeit, welche ihr besseres Selbst mehr und mehr aufzehrte und damit einer furchtbaren Selbstsucht Nahrung gab, welche sie endlich kaltblütig zu den gräßlichsten Mordtaten schreiten ließen, sobald ein oft nur scheinbarer Vorteil in Aussicht stand.
Sie lernte in einem Nachbarhause – die Eltern konnten ihrem Engel schon nichts mehr abschlagen – tanzen. Sie spielten Sonntags Komödie. Bald war das ganze Leben des dreizehnjährigen Mädchens eine Komödie, in der sie die große Rolle durchführte, allen Leuten zu gefallen, eine Rolle, mit solcher Kunst durchgeführt, daß man ihr erst im dreiundvierzigsten Jahre ihres Lebens die Larve vom Gesicht riß! – Gescha spielte unter ihren Gespielinnen am besten, sie bekam die besten Rollen; sie war die Schönste, man schmückte sie am schönsten mit Bändern und Schleifen heraus. Sie war die Königin des Spiels, und die armselige Alltagswoche konnte nur in Erwartung des berauschenden Sonntagsvergnügens ruhig verlebt werden. Aber doch spielte sie auch die übrigen sechs Tage zu Hause Komödie: sie ließ nichts von ihrer Lust dazu merken! Am Montag freilich fiel sie aus der Rolle; sie wischte die Schminke von gestern noch nicht ab, die ihr so wohl stand, und die Mutter begnügte sich damit, darüber zu lächeln.
Sie war zur Jungfrau aufgeblüht. Ihr äußerlicher Liebreiz war gewachsen. Die charakteristische Weichheit ihres Herzens schien nur noch mehr ausgesprochen. Von den Müttern wurde sie ihren Töchtern als Muster vorgestellt, von diesen selbst aber nicht etwa beneidet, sondern innig geliebt.
Gern hätte Gescha, in ihrem Studium dessen, was vor den Menschen gilt, weit vorgeschritten, musikalischen Unterricht gehabt und Klavierspielen gelernt, das war aber von den Eltern zu viel gefordert, die nur für Notwendiges und Nützliches Geld ausgaben. Auch schien es doch unpassend für ein Bürgermädchen, das als Magd im Hause arbeitete. Ein-oder zweimal in der Woche kehrte sie auch wohl, den Besen in der Hand, vor dem Hause. Und dennoch entschlossen sich die Eltern, ihr – französischen Unterricht geben zu lassen, weil sie meinten, ein so außerordentliches Kind müsse bei seinen seltenen Geistesgaben doch wenigstens eine besondere Kenntnis vor allen Töchtern gleichen Standes voraushaben. Aber schon hier betrog sie. Der wissenschaftliche Unterricht war viel zu ernsthaft für ihr leichtfertiges Gemüt. Die aufgegebenen Arbeiten langweilten sie, und sie ließ sie sich von einem befreundeten Tischlergesellen, der vollkommen französisch sprach, aufschreiben, arbeitete aber sorgsam einige Fehler hinein, um den Betrug nicht zu auffällig zu machen. Sie erntete für ihre vortrefflichen französischen Aufsätze das größte Lob ein, das sie in Bescheidenheit hinnahm. Aber mit dem wenigen, was sie aufgefaßt hatte, putzte sie später ihre oberflächliche Bildung aus, und es diente ihr zu dem Lug und Trug, den sie in höheren Kreisen so geschickt wie in den niedrigeren fortspielte.
Bei einer sogenannten Korporalsmahlzeit – einem jährlichen Schmause der nach altertümlicher Weise in eine Miliz eingeteilten Bürger – trat Gescha, damals sechzehn Jahre alt, zum ersten Male in die Welt. Jubel, Tanz und Spiel begleiteten mehrere Tage lang diese Feier. Sie zog aller Augen auf sich. Aber die Sinnlichkeit war in der Jungfrau noch nicht erwacht. Sie war mannigfachen Nachstellungen ausgesetzt, hat aber in dieser Beziehung den unbescholtensten Ruf mit in die Ehe genommen. Heiratsanträge kamen schon in diesem sechzehnten Jahre. Drei wurden ohne weiteres von Vater und Tochter zugleich abgelehnt; ein vierter und, da der Freiwerber ein junger wohlhabender Meister des Gewerbes war, ziemlich verlockender nur auf Überredung des Vaters. Gegen Person und Vermögen des Werbers hatte der alte Timm nichts einzuwenden, wohl aber gegen den Handwerkszweig, weil es sein eigener war. Da Geschas Bruder dereinst in Bremen Meister werden sollte, fürchtete der fern in die Zukunft rechnende Alte einen Brotneid zwischen den Geschwistern. Gescha hatte den Werber zwar nicht gerade geliebt, aber es durchzuckte sie doch mit Eiskälte, als sie den abgewiesenen Werber an der Hand einer anderen jungen Braut dahinschreiten sah.
Gescha – vielmehr Gesina, wie sie sich jetzt nennen ließ, da ihr jener Name zu gemein klang – wuchs, wie an Schönheit und Jahren, so an Liebe im Herzen ihrer Eltern; sie, die ausgezeichnete Tochter, die über ihrer Art stand und doch Vater und Mutter auch nicht den geringsten Kummer verursachte, während der Bruder, ein ausschweifendes Leben in Hamburg und Paris führend, Schulden machte, sein Erbteil verzehrte und schon anfing, als verlorener Sohn betrachtet zu werden. Auch der Ruf ihrer Sittsamkeit und Tugend wuchs unter ihren Gespielinnen, denn ihre wunderbare Erscheinung lockte Vornehmere heran, aber Gesina unterdrückte alle Wünsche des Herzens, sobald sie wahrnahm, daß der Bewerber keine ehrbaren Absichten haben könnte.
Eines Abends war sie im Theater in Begleitung ihrer vertrauten Freundin Marie Heckendorf, die in ihrem Leben eine nicht unbedeutende Rolle spielte. Es war das erstemal, daß sie das Theater besuchte, und dieser Besuch sollte für ihr Leben von großem Einfluß werden; aber die Gottfried erinnerte sich später trotz ihres vortrefflichen Gedächtnisses weder des Namens noch des Inhaltes des Stückes und wußte nichts davon, als daß eine sehr schöne Person, Elise Bürger, darin mitgespielt habe. In der Loge des zweiten Ranges, wo sie saß, drängte sich ein dicker vornehmer Herr an Gesina heran, der sie mit Artigkeiten überschüttete und nachher, wiewohl umsonst, dem schönen Mädchen nachstellte. In der Person eines Nachbars, des jungen Miltenberg, erschien aber zugleich ein Beschützer, welcher sich während der Aufführung zwischen den galanten Herrn und das hübsche Mädchen drängte und dann aus nachbarlicher Pflicht Gesina aus dem Theater bis in ihr Haus begleitete.
Vom Augenblick dieses ritterlichen Dienstes an entspann sich zwischen beiden kein Liebesverhältnis, aber eine stumme Beobachtung und Aufmerksamkeit; Miltenberg ging immer vor des alten Timm Hause vorüber, wenn Gesina mit dem Besen davor kehrte, und unterließ nie zu sagen: »So fleißig?« Gesina dagegen fand, daß das Wasser im Miltenbergschen Brunnen das beste in der Straße sei, und holte es daher für die Wirtschaft von dort, was nicht auffällig war, da Miltenbergs Haus dem ihrer Eltern schräg gegenüber lag. Auch kaufte sie im Gürtlerladen, wenn der junge Miltenberg verkaufte, gern ein paar Kleinigkeiten, und Miltenberg begleitete sie dann hinaus. Liebe war auf ihrer Seite nicht im Spiel, aber Eitelkeit und für ihre Lage eine glänzende