Wenn man aufsteht, wird die Verbeugung tiefer. Heinz Florian Oertel
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Ältere Cottbuser Freunde hatten mich zum Rilke-Fan gemacht. Der gerade zuständige Deutschlehrer unterstützte mich. Mir gefiel dieser spezielle, schöne Sprachrhythmus, die dadurch möglichen Sprechmelodien und die Bilder, die Rilke schuf. Viele Metaphern verstand ich noch nicht, klar, aber alles beeindruckte mich, und die mit alten Schreibmaschinen abgetippten Texte hob ich lange, lange auf.
Fürs Finale wählte ich drei oder vier Abschnitte aus einem Rilke, der zu dieser Zeit manchen von uns begeisterte. »Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke«. Gleich der Anfang faszinierte: »Reiten, reiten, reiten, durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag. Reiten, reiten, reiten. Und der Mut ist so müde geworden, und die Sehnsucht so groß …« Meine zweite Kür-Wahl wurde Rilkes »Herbsttag«. Warum? Wieso? Keine Erklärung. Alles Lebenssymbolische dieser Zeilen ging mir erst viel später auf. Gerade die Erinnerungen, die jetzige Lebensherbstnähe und das sprachlich Ewig-Meisterliche …
Ende der Kindheit
1943, als wir Fünfzehnjährigen noch martialisch Pimpfengesänge schmetterten, verräterische Lieder, wonach »die Fahne mehr ist als der Tod«, und allen Nichtdeutschen gedroht wurde, »Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt«, 1943 also, brüllten deutsche Männer, Erwachsene, im Berliner Sportpalast auf Goebbels’ Wahnsinnsfrage »Wollt ihr den totalen Krieg?« ihr selbstmörderisches »Jaaa«! In Stalingrad endete die furchtbare Umklammerungsschlacht mit dem deutschen Fiasko … Erstmals beriefen die Nazis Schüler zum Luftwaffenhelferdienst.
Obwohl sich der von Deutschland angezettelte Eroberungs- und Vernichtungskrieg längst zum mit Opfern übersäten Rückzugsmarsch aller deutschen Truppen gewendet hatte, hörten wir in der Schule tagtäglich weiter Ruhmesgeschichten und Aufmunterungsparolen … Neben der Schultafel hing seit Kriegsbeginn eine große Europakarte. Dort mussten wir jeden Tag nach den Sondermeldungen des Reichsrundfunks bunte Stecknadeln pinnen. So blickten wir jede Stunde auf das großartige Stecknadelgemälde, das bewies, wo unsere Soldaten überall stehen, wie weit es Kriegs-Deutschland schon gebracht hatte. Von der Normandie bis vor Moskau, von Afrika bis an den Nordpolrand, Deutschland, Deutschland über alles …
Wir galten als die Zukunft dieses Deutschlands, und unsere nächste Zukunft sollte sein, auf dem »Feld der Ehre« neue Taten zu vollbringen.
Dem widmete sich auch das Erziehungsmotto: Seid schnell wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl. Das wurde uns eingeimpft bei Schulapellen, Jungvolk- und Hiltlerjugend-Aufmärschen, und Redner wiederholten es gebetsmühlenartig bei jeder Gelegenheit. Es tönte aus dem Radio. Es stand in den Zeitungen. Sport, gewöhnliches Sporttreiben priesen Ideologen als beste Vorbereitung für den Waffendienst. Als allerbeste die durch den Leistungssport. Krönend, so lautete eine logische Fortsetzung solcher Menschenverachtung und Menschenfeindlichkeit, sei der Jünglingstod fürs Vaterland … Das junge Geschlecht, das waren wir, vorgesehen als frisches Kanonenfutter.
… Ambitionierter Jungsportler
Hochfliegende Träume
Während der Cottbuser Schulzeit zählten mich die Lehrer zu den eifrigsten und manchmal auch zu den besten Sportlern. Einige hatten es gut verstanden, mein Sportinteresse zu wecken, meinen Ehrgeiz anzustacheln. So startete ich bei allen möglichen Leichtathletiksportfesten. Hochspringen und Diskuswerfen waren meine Spezialitäten.
Cornelius Cooper Johnson gewann 1936 bei den Olympischen Sommerspielen in Berlin die Hochsprung-Goldmedaille mit 2.03m. Sein Landsmann David Albritton schnappte sich mit 2.00m die Silbermedaille. Beide Amerikaner »rollten« über die Latte. Etwas total Neues, Überraschendes und Revolutionierendes. Bis dahin sprangen alle einen Scherstil. Davon gab es x Varianten. Jeder Hochspringer zimmerte seinen persönlichen. Ich kam damit als Zehnjähriger über 1.20m. Im Olympiafilm erlebte ich dann diese verblüffende Demonstration der Berlin-Gewinner.
Fortan versuchte ich auch, dieses »Rollen« in den Griff zu kriegen. Mit vierzehn Jahren langte ich bei 1.50m an, und als Sechzehnjähriger, kurz bevor andere Ereignisse böse Wenden schafften, kam ich noch auf 1.68m. Das konnte sich sehen lassen. Ich träumte aber von den zwei Metern. In jenen Jahren hatten überhaupt erst zwei deutsche Hochspringer diese Höhe bewältigt, die heutzutage für Hunderte von Sechzehnjährigen zwischen Moskau und Los Angeles längst kein Traum mehr ist.
Ich könnte meine damaligen Träume noch heute exakt beschreiben: der federnde Anlauf, das Raunen eines imaginären Publikums, der explosive Absprung, das Querlegen zum Rollen, das Eintauchen in die Sandgrube, der donnernde Applaus von den Rängen … Meist wurde ich an dieser Stelle hellwach, schreckte hoch, und Vater oder Mutter brummelten schlafverstört: »Aha, der Springer ist wieder mal gelandet …«
Mit dem Fuß am Ball
Zum Hochspringen und Diskuswerfen kam noch das Fußballspielen. Cottbus und Fußball, das gehörte immer zusammen, und in dieser Zeit waren neben 98 Cottbus und 97 Cottbus Wacker Ströbitz, Union, Viktoria und Friesen die populärsten. Zeitweilig spielte der CSC Friesen auch in der Gauliga Berlin-Brandenburg mit, und dadurch sah ich Hertha und Wacker 04, den BSV 92 und Tennis Borussia … Zehntausend säumten schon damals das Spielviereck an der Dresdner Straße, und meist gehörte ich – allerdings illegal – dazu. Wir hatten uns ein Zaunloch gebuddelt, das wir die Woche über mit Grasklumpen tarnten. Sonntags krochen wir dann durch und bestaunten die Einheimischen …
Meine eigenen Kickervorstellungen müssen wohl nicht so eindrucksvoll gewesen sein. Ich wurde auf vielen Positionen getestet. Mal überraschte ich als Mittelstürmer, weil ich lang und steif wie eine Fahnenstange ein paar Flanken oder Eckbälle mit dem Kopf erwischte und die anderen »Tor« schreien konnten. Für vierzehn Tage galt ich dann als Kopfballspezialist, um nach Pleiten ebenso schnell verdammt zu werden. Das alles weckte frühzeitig in mir den Verdacht, der sich später bestätigen sollte. Wer in diesem Spiel alles ernst nimmt, ist selber schuld. Vor allem hing mir auch an, bei Zweikämpfen zu kneifen, nicht »die Knochen voll hinzuhalten«. Mit dieser Entdeckung lagen die Kritiker und Übungsleiter wohl nicht schief.
Vergebliche Liebesmüh
Bei der Leichtathletik fühlte ich mich immer besser aufgehoben, und da genoss ich auch einigen Erfolg. Zusätzlich kam ich in allerersten Pressekontakt. Unsere Heimatzeitung war in diesen Jahren der Cottbuser Anzeiger. Deren Redaktion befand sich in der Bahnhofstraße, und wenn ich dort vorbeipilgerte, las ich in den großen Schaukästen Sportberichte. Beim Schulsport warf ich, übrigens hinter der jetzigen Energie-Stadiontribüne und direkt vorm Spreeufer, mit 100-m-Schlagball Altersrekord. Ein Klassenkamerad überzeugte mich, das muss in die Zeitung. Wir verfassten beide einen knappen Bericht, natürlich mit meinem Namen als »Rekordinhaber«. Wir trauten uns aber nicht, diese Artikel-Erstgeburt zu unterzeichnen. Abends warfen wir den Ur-Bericht in den dicken Redaktionsbriefkasten. Da wir zu Haus keinen Cottbuser Anzeiger besaßen, musste ich in den folgenden Tagen immer wieder am Schaukasten vorbeischleichen, um zu gucken, kommt der Bericht oder kommt er nicht … Er kam nicht. Wer weiß, warum. Meine Enttäuschung war aber ziemlich groß.
Schneegestöber
Das ist normal im Leben: Was man selbst nicht recht beherrscht, wird oft am stärksten bewundert. Für mich gilt das, nur unter anderem, auch für den Umgang mit Skiern. Als Jungen marschierten wir von Cottbus die knappen vier Kilometer bis Merzdorf. Dort beulte sich aus dem märkischen Kiefernwald ein winziger Buckel, den wir »Kahle Glatze« nannten. Ganz abgesehen davon, dass mir als Zehnjährigem damals dieser »weiße Schimmel« – die Tautologie