Das Stunden-Buch. Rainer Maria Rilke

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Das Stunden-Buch - Rainer Maria Rilke

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ich in einem tausendfachen

      Gedanken bis an deinen Rand dich denken

      und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),

      um dich an alles Leben zu verschenken

      wie einen Dank.

      Ich lebe grad, da das Jahrhundert geht.

      Man fühlt den Wind von einem großen Blatt,

      das Gott und du und ich beschrieben hat

      und das sich hoch in fremden Händen dreht.

      Man fühlt den Glanz von einer neuen Seite,

      auf der noch Alles werden kann.

      Die stillen Kräfte prüfen ihre Breite

      und sehn einander dunkel an.

      Ich lese es heraus aus deinem Wort,

      aus der Geschichte der Gebärden,

      mit welchen deine Hände um das Werden

      sich rundeten, begrenzend, warm und weise.

      Du sagtest leben laut und sterben leise

      und wiederholtest immer wieder: Sein.

      Doch vor dem ersten Tode kam der Mord.

      Da ging ein Riß durch deine reifen Kreise

      und ging ein Schrein

      und riß die Stimmen fort,

      die eben erst sich sammelten

      um dich zu sagen,

      um dich zu tragen

      alles Abgrunds Brücke –

      Und was sie seither stammelten,

      sind Stücke

      deines alten Namens.

      Der blasse Abelknabe spricht:

      Ich bin nicht. Der Bruder hat mir was getan,

      was meine Augen nicht sahn.

      Er hat mir das Licht verhängt.

      Er hat mein Gesicht verdrängt

      mit seinem Gesicht.

      Er ist jetzt allein.

      Ich denke, er muß noch sein.

      Denn ihm tut niemand, wie er mir getan.

      Es gingen alle meine Bahn,

      kommen alle vor seinen Zorn,

      gehen alle an ihm verloren.

      Ich glaube, mein großer Bruder wacht

      wie ein Gericht.

      An mich hat die Nacht gedacht;

      an ihn nicht.

      Du Dunkelheit, aus der ich stamme,

      ich liebe dich mehr als die Flamme,

      welche die Welt begrenzt,

      indem sie glänzt

      für irgend einen Kreis,

      aus dem heraus kein Wesen von ihr weiß.

      Aber die Dunkelheit hält alles an sich:

      Gestalten und Flammen, Tiere und mich,

      wie sie’s errafft,

      Menschen und Mächte –

      Und es kann sein: eine große Kraft

      rührt sich in meiner Nachbarschaft.

      Ich glaube an Nächte.

      Ich glaube an Alles noch nie Gesagte.

      Ich will meine frömmsten Gefühle befrein.

      Was noch keiner zu wollen wagte,

      wird mir einmal unwillkürlich sein.

      Ist das vermessen, mein Gott, vergib.

      Aber ich will dir damit nur sagen:

      Meine beste Kraft soll sein wie ein Trieb,

      so ohne Zürnen und ohne Zagen;

      so haben dich ja die Kinder lieb.

      Mit diesem Hinfluten, mit diesem Münden

      in breiten Armen ins offene Meer,

      mit dieser wachsenden Wiederkehr

      will ich dich bekennen, will ich dich verkünden

      wie keiner vorher.

      Und ist das Hoffahrt, so laß mich hoffährtig sein

      für mein Gebet,

      das so ernst und allein

      vor deiner wolkigen Stirne steht.

      Ich bin auf der Welt zu allein und doch nicht allein genug,

      um jede Stunde zu weihn.

      Ich bin auf der Welt zu gering und doch nicht klein genug,

      um vor dir zu sein wie ein Ding,

      dunkel und klug.

      Ich will meinen Willen und will meinen Willen begleiten

      die Wege zur Tat;

      und will in stillen, irgendwie zögernden Zeiten,

      wenn etwas naht,

      unter den Wissenden sein

      oder allein.

      Ich will dich immer spiegeln in ganzer Gestalt,

      und will niemals blind sein oder zu alt

      um dein schweres schwankendes Bild zu halten.

      Ich will mich entfalten.

      Nirgends will ich gebogen bleiben,

      denn dort bin ich gelogen, wo ich gebogen bin.

      Und ich will meinen Sinn

      wahr vor dir. Ich will mich beschreiben

      wie ein Bild das ich sah,

      lange und nah,

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