Im Namen des Kindes. Martina Leibovici-Muhlberger
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Roman kann anfänglich nur in Begleitung seine Therapietermine wahrnehmen. Gehäufte Panikattacken, Schlaflosigkeit, Zwangsgedanken, ein allgemeines Gefühl, dem Leben nicht mehr gewachsen zu sein, und zunehmend aufkeimende Sinnlosigkeit haben den 37-jährigen Spritzgusstechniker, der bei allen im Unternehmen als Fels in der Brandung gegolten hat und ob seines enormen Engagements als Betriebsrat von jedem geschätzt wird, in den letzten drei Monaten bedrohlich ausgehöhlt.
Jetzt ist er seit drei Wochen mit der Diagnose Burn-out im Krankenstand, doch sein Zustand hat sich seitdem nicht gebessert. Als einzig positiven Aspekt, den er mit einem verunglückten Grinsen anbringt, führt er die Tatsache an, keine Frau und Familie zu haben, die er erhalten müsste. »Wenigstens in dieser Richtung kein zusätzlicher Druck«, meint er.
In der Exploration der dem akuten Ereignis vorausgegangenen Lebensperiode benennt er drei Ereignisse, die ihm, wie er es ausdrückt, »den Rest gegeben haben«. Angefangen habe es mit dem Diebstahl seines Autos und der von ihm erlebten Tatenlosigkeit der Polizei vor knapp neun Monaten. Danach wäre eine Rauferei mit drei Betrunkenen in einem Tanzlokal, in die er schuldlos verstrickt wurde, gekommen – und die Tatsache, zu einer Polizeieinvernahme vorgeladen zu werden, in der er sich schlecht behandelt fühlte. Das Fass zum Überlaufen habe dann noch ein Einbruchsversuch in seiner Wohnung gebracht. Der Dieb richtete beträchtlichen Sachschaden an, wurde aber scheinbar gestört und ließ die bereits für den Abtransport zusammengestellten Wertgegenstände zurück, nicht ohne noch zuvor eine Flasche Cola über die elektronischen Geräte zu gießen und diese damit zu zerstören.
Zugegeben, eine unangenehme Häufung von herausfordernden Lebenssituationen, Situationen, in denen dem Gerechtigkeitssinn die lange Nase gedreht wird. Aber Grund für einen totalen Zusammenbruch, wie ihn Roman erlebte? Und Roman spricht in seiner Darstellung von drei Ereignissen, die ihm »den Rest« gegeben hätten, was auf eine vorbestehende Dis-Balance unter seiner scheinbar so gefügten Lebenskruste hinweist.
Roman ist der Älteste von drei Geschwistern. Seine Mutter verließ die Familie Knall auf Fall, als er neun Jahre alt war – ließ ihn und die beiden jüngeren Schwestern beim Vater zurück. Das Verschwinden der Mutter erinnert er als den Tag, an dem er von der Schule heimkam und das Haus seltsam leer erlebte. Erst abends klärte der Vater die Kinder über den Sachverhalt auf und darüber, dass die Mutter zu ihrer Schwester nach Sydney gezogen wäre und nicht mehr zurückkommen würde.
»Damals ist etwas in mir zerrissen«, beschreibt er die Situation, »ich fühlte mich total starr, völlig orientierungslos, als würde die Magnetnadel eines Kompasses wie wild kreisen, ohne ihre richtige Position zu finden – und gleichzeitig begann ich mir den Kopf zu zermartern, was ich falsch gemacht haben könnte. Ich war kein besonders interessierter Schüler und lernte eher schwer, und ich habe öfter mal meine kleinen Schwestern geneckt.«
Romans Vater schweigt wie vorher in der Ehe auch jetzt. Roman kann sich nicht erinnern, seine Eltern je in einer Auseinandersetzung erlebt zu haben. »Es war, als wäre meine Mutter gestorben und als existierte ein unausgesprochenes Tabu, darüber zu sprechen.«
Ein neuer Lebensalltag etabliert sich. Eine Nachbarin wird vom Vater bezahlt, um zu kochen und die Wäsche zu übernehmen. Der Vater zieht sich jenseits seiner beruflichen Tätigkeit zunehmend in ein stilles Trinkertum zurück, das ihn nach Romans Empfinden unerreichbar macht. Roman wird zum Hauptansprechpartner seiner kleinen Schwestern, einer, der ihren Kinderalltag organisiert, für ihre Fragen und Probleme zuständig ist, sie später in der Pubertät zuführen versucht – ständig belastet mit dem Gefühl, es nicht gut genug zu machen. Erfühlt sich ohnmächtig, allein und ausgeliefert. Nach außen imponiert die Familie als unauffällig. Der Vater erleidet Mitte 50 einen schweren Schlaganfall und lebt seither in einer betreuten Einrichtung.
Roman besucht ihn nie.
Zwei Fallgeschichten aus der Praxis, die beide eine weichenstellende Bedeutung der Scheidung der Eltern und des mit diesem Ereignis verbundenen Umgangs für die weitere Entwicklung der betroffenen Kinder demonstrieren.
* Welchen Einfluss hätte es gehabt, wenn Claudias Eltern zu einem respektvollen Grundumgang nach der Scheidung gefunden hätten?
* Welche Gestaltungsmöglichkeiten hätte Claudias Mutter noch für ihr Leben finden können, wenn sie die Kränkung über den Betrug und das Verlassenwerden von Claudias Vater überwinden hätte können?
* Welchen Einfluss hätte es auf Claudia gehabt, entsprechende Lösungsstrategien vorgelebt zu bekommen und nicht in eine symbiotische Ersatzbeziehung reklamiert zu werden?
* Wie wäre Romans Leben verlaufen, wenn sein Vater mit der dramatischen Situation des Mutterverlusts offen und mit den Kindern trauernd umgehen hätte können? Könnte Roman heute dann selber ein glücklicher Familienvater sein, statt das Fehlen von Beziehung und Familie als einzigen Pluspunkt seiner Situation zu bewerten?
* Was wäre gewesen, wenn Romans Vater sich seine eigene Überforderung zugestehen hätte können, statt in Alkoholismus auszuweichen und sich seiner Verantwortung für die Kinder zu entziehen?
Hypothetische Fragen, natürlich, und unmöglich zu beantworten. Doch es wird allemal deutlich, dass hier für die beteiligten Kinder viel Leid und Potenzialverlust die Konsequenzen sind, obwohl alle Betroffenen sicher nach den ihnen zur Verfügung stehenden Kräften und in vielfacher eigener Bedrängnis gehandelt haben.
Wir haben Handlungsbedarf als Gesellschaft. Kinder wie Claudia und Roman leben auch heute unter uns. Viele Eltern brauchen in dieser schwierigen Lebensphase für sich und ihre Kinder Unterstützung, einen Transfer des bestehenden Wissens, wie wir es besser machen können, damit die Lebensgeschichten von Kindern wie Claudia und Roman sich unbeeinträchtigter fortschreiben können.
Die Gesellschaft hat Handlungsbedarf
* Trennung/Scheidung ist als weichenstellendes Ereignis im kindlichen Erleben zu sehen.
* Ein Mangel an gesellschaftlichem Bewusstsein und Unterstützungsangeboten zieht häufig eine mangelhafte Bewältigung dieses Lebensphasenwechsels nach sich.
* Für die betroffenen Kinder, die in diesen Konstellationen prägende Erfahrungen machen, kann dies eine Beeinträchtigung für die eigene Lebensgestaltung nach sich ziehen.
4.
Der apokalyptische Reiter – Scheidung am Horizont
Das wirklich Herausfordernde für Kinder an der Scheidung ihrer Eltern ist, dass sie in ihrer Kindheit passiert. Auch wenn es sich für die beteiligten Erwachsenen um ihre erste Scheidung handelt, so haben sie dennoch Erfahrung in der Bewältigung früherer psychosozialer Krisen und Trennungen. Sie sind zum Zeitpunkt der Trennung/Scheidung eben Erwachsene mit ihrem vollausgebildeten Repertoire an Copingstrategien, also Bewältigungsstrategien.
Für Kinder sieht der Sachverhalt ganz anders aus. Sie befinden sich nicht nur physisch, sondern auch psycho-emotional in einem Wachstumsprozess. Alle gemachten Erfahrungen werden nicht im Spiegel eines bereits etablierten, orientierungspendenden Wertekanons katalogisiert und abgehandelt, sondern tragen auf einer viel tieferen Ebene dazu bei, gerade diese späteren Wertesysteme aufzubauen. Es sind somit prägende Erfahrungen.
Die Kindheit ist das Treibhaus des zukünftigen Weltbilds. Damit einhergehend stehen alle Erfahrungen, die das Kind macht, in engem Zusammenhang mit seiner Identitätsbildung,