Detektiv Asbjörn Krag: Die bekanntesten Krimis und Detektivgeschichten. Sven Elvestad
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Dann fing er wieder an im Zimmer auf und ab zu gehen, aber von Zeit zu Zeit blieb er stehen und wiederholte denselben Ausruf: »Du großer Gott!« Dann nahm er einen Stuhl und setzte sich ans Fenster. Er stützte den Kopf in die Hand und blickte hinaus. Das Fenster war offen.
*
Tief unten in dem großen Haus war irgendwo das Schlafzimmer der Fährleute. Das alte Ehepaar war noch nicht eingeschlafen, sie lagen in dem großen Himmelbett nebeneinander. Von einem der runden kleinen Fensterchen war der Vorhang zurückgezogen, so daß der Sternenhimmel draußen zu sehen war. Aber das nächtliche Licht des Himmels konnte die tiefe Finsternis in den Ecken des Zimmers nicht erhellen. Durch das alte Gebälk des Hauses drang ein Laut von oben, Seufzer auf Seufzer, wie Wassertropfen, die in weiter Ferne fallen, das waren die Schritte des Fremden. Die Fährleute sagten nichts, sie lagen völlig in Finsternis begraben da, aber es war in dieser vollkommenen Stille doch etwas Unbestimmbares, das gleichsam ihre lauschenden Ohren und ihre offenen, starrenden Augen verriet.
Jetzt hörte das Geräusch der Schritte auf.
Johannes Stimme ertönte aus dem Dunkel:
»Er ist zu Bett gegangen!«
Kaisa flüsterte:
»Das glaube ich nicht. Er hat sich niedergesetzt. Oder auch er steht und horcht. Sprich leise.«
»Ob er wohl etwas gemerkt hat?«
»Was sollte er merken?«
»Daß du versucht hast, den Koffer zu öffnen.«
»Das kann er nicht sehen.«
Eine kleine Pause. Dann wieder Kaisa:
»Es ist Geld im Koffer. Gold. Sonst könnte er nicht so schwer sein.«
»Dann muß es viel Gold sein«, sagte Johannes.
»Warum ist er hergekommen?« fragte Kaisa.
»Ich habe dir doch schon gesagt, das kann ich nicht wissen.«
»Ich bin sicher, daß es niemanden gibt, der nach ihm fragen wird. Niemand wird nach ihm suchen. Niemand wartet auf ihn. Niemand wird nach ihm fragen. Er verbirgt sich. Warum kommt er sonst in solch einen öden Ort!«
Plötzlich sagte Johannes weinerlich:
»Ich bin ein schwacher alter Mann, und er ist jünger als ich.«
»Dazu braucht man keine Kraft«, antwortete Kaisa.
Dann war es lange still. In dieser Stille hörte man ab und zu ein Stöhnen von Johannes. Aber es war etwas Seltsames in dieser Stille, in diesem Dunkel, etwas furchtbar Drückendes, etwas wild Grüblerisches.
Plötzlich fragte Johannes:
»Was sagtest du, Kaisa?«
»Ich sagte nichts.«
»Doch, ich habe es gehört«, fuhr Johannes in wilder Verzweiflung fort. »Ich hörte deutlich, wie du sagtest: Mit der Axt ... Das hast du gesagt, Kaisa!«
Kaisa antwortete nicht.
Nun begann der Tag durch das runde Fenster zu dämmern, ein gelbes Auge, das zu ihnen hineinstarrte, und in dem Licht dieses gelben Auges wurden das Himmelbett und die alten Fährleute sichtbar.
VIII. Signe und der Fremde
Der nächste Morgen war ein Sonntag. Auch in solch einem kleinen Ort kann man dies an so manchem merken. Ein Mädchen geht in frisch geplättetem Kleid vorbei, ein Fischer sitzt in blendend weißen Hemdärmeln am Gartenstaket und streicht die Stäbe grün an, aus den Häuschen dringen Menschenstimmen, die Leute sind daheim, der Schornsteinrauch ist blau und fein von gutem Kaffee. Auch das Wetter ist sonntäglich geputzt, ein ungewöhnlich früher Frühlingstag, ein durchsichtiges Licht, das die fernen Höhen näher bringt – weit draußen kann man die äußersten schaumbefransten Schären so deutlich wie durch einen Feldstecher sehen.
Der Gang zum Bethaus beginnt früh. Es ist erstaunlich, wie viele abstechende Menschentypen in solchen kleinen Orten zum Vorschein kommen, wenn die Leute sich außerhalb ihrer Behausungen zeigen, wie viele Bresthafte und Verkrüppelte und vor allem wie viele Alte. Es sah aus, als hätte die Zeit sich in diesen Menschen festgesetzt, die in der salzigen Luft des Meeres nur langsam verwittern. Auch war es seltsam, wie rasch die Prozession zum Bethaus sich bildete, als nur erst der Anfang gemacht war: Da kam eine alte Frau aus ihrer Tür, schwarz gekleidet, das Psalmbuch in den Fäustlingen. – Das war das Signal, die Leute hatten hinter ihren Gardinen gestanden und gewartet, nun mit einem Male humpelten Gestalten aus allen Türen, und ganz von selbst bildete sich der Zug. Zwei oder drei gingen zusammen – und nicht nur die Alten, auch die Jüngeren hatten sich diesen gebrechlichen Gang angewöhnt, diesen ganz besonderen, geduckten Kirchengang, der für einfache, zurückgezogene Menschen charakteristisch ist, wenn sie sich dem Gotteshaus nähern. Zumeist waren es Frauen, alle in Schwarz sorgsam herausgeputzt – Hüte, Mäntel, Kapuzen, Galoschen, Samtbänder, Seidenbinden, alles in Schwarz. Ein Hauch von auf dunklen Dachböden aufbewahrten Truhenkleidern. Diese Prozession, die an sich so düster war, warf gleichsam einen Schatten mitten in den Sonnenschein. Und von ihr verbreitete sich ein Gemurmel von Seufzern und Traurigkeit, eigentlich war es nur das Wort ja, aber in verschiedenen Modulationen, ja, ja, ja und mit dem Zusatz »ach«: jajaja, ach ja. Als der Zug am Fährhaus vorbeikam, wurden alle verdächtig still.
Im Fährgasthaus hatten die Frauen schon das Haus für den Tag instand gesetzt. Während die Kirchenbesucher vorbeipassierten, stand Kaisa an einer der kleinen Fensterluken und guckte hinaus, hinter der blauen Gardine verborgen. Das Licht traf ihr Gesicht und zeichnete ihr Profil gegen die braunen Balken. Ein scharfgeschnittenes, vogelähnliches Profil. Es war etwas nachdenklich Spähendes in ihren Augen, nicht unähnlich den Raubvogelaugen, die hoch oben vom Horst zu den Tiefen der Menschen hinunterspähen. Während die Leute vorbeigingen, nannte sie ihre Namen, flüsternd, für sich selbst, einen nach dem andern, sie zählte ihre Feinde.
Überall im Fährhaus war es düster und halbdunkel. Auch wenn der Tag draußen im Sonnenlicht funkelte. Das ursprüngliche alte Gebäude hatte wenige und ganz kleine Fensterchen, die obendrein noch tief drinnen im Gebälk saßen, wie Luken in Schloßmauern. Überdies waren die Zubauten im Laufe der Jahrhunderte nur ganz zufällig an das alte Haus angeklebt, oft die wenigen Zugänge von Licht und Luft, die noch vorhanden waren, verrammelnd. In der Wirtsstube standen Truhen und Tische aus dunklem, verräuchertem Holz, der einzige Schmuck der Wände war eine Reihe von Zinntellern.
Kaisa trat vom Fenster weg.
»Jetzt gehen sie ins Bethaus, um uns Wirtsleute zu verfluchen«, sagte sie.
Ein grauer Schatten löste sich aus einem der tiefsten Winkel der Stube. Das war Johannes, der dort drinnen ein wenig geschlummert hatte.
Kaisa fuhr fort:
»Ich habe es ihnen angesehen, was sie im Schilde führen. Sie waren alle ganz mäuschenstill, als sie hier vorbeigingen. Manchmal hört man aber mehr aus einer Stille als aus einem Lärm. Die Blicke, die sie herwarfen, waren deutlich genug, Bosheit und Schadenfreude.