Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi. Leo Tolstoi
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Читать онлайн книгу Die wichtigsten Werke von Leo Tolstoi - Leo Tolstoi страница 176
»Hast du die Fürstin gesehen?« fragte ihn die Gouverneurin am Schlusse der Feier, indem sie mit dem Kopf nach einer schwarzgekleideten Dame deutete, welche nahe dem Altar stand.
Nikolai erkannte sogleich Marie, weniger an ihrem Profil als an dem Gefühl der Ehrfurcht und des Bedauerns, das ihn sogleich befiel. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck des Kummers und andächtiger Hoffnung. Unwillkürlich trat Rostow auf sie zu.
»Ich wollte Ihnen sagen, Fürstin«, begann er, »daß, wenn Fürst Andree nicht mehr am Leben wäre, das sogleich in den Zeitungen bekanntgemacht worden wäre, da er Regimentskommandeur ist.«
Die Fürstin sah ihn an, ohne seine Worte zu verstehen, aber erfreut über den Ausdruck von Mitgefühl, den sie auf seinem Gesicht las.
»Ich weiß aus vielen Beispielen, daß eine Verwundung durch Granatsplitter entweder sogleich tödlich oder sehr leicht ist. Man muß das Beste hoffen, und ich bin überzeugt …«
»O, das wäre schrecklich!« unterbrach ihn Marie. Sie beugte mit einer graziösen Bewegung den Kopf, blickte ihn dankbar an und ging zu ihrer Tante.
Am Abend dieses Tages war Nikolai zu Hause geblieben, um einige Abrechnungen mit Pferdehändlern zu beendigen. Als er damit fertig geworden war, war es schon zu spät geworden, um auszugehen, aber es war noch zu früh, um sich schlafen zu legen, und Nikolai ging in tiefen Gedanken auf und ab.
Fürstin Marie hatte bei Smolensk einen angenehmen Eindruck auf ihn gemacht, welcher sich in Woronesch noch bedeutend verstärkte. »Sie muß ein wunderbares Mädchen sein« sagte er. »Warum bin ich nicht frei, warum habe ich mich mit Sonja übereilt?« Und unwillkürlich begann er, beide miteinander zu vergleichen und versuchte sich vorzustellen, was er tun würde, wenn er frei wäre.
Lawruschka trat ein und brachte ihm zwei Briefe. Der eine war von seiner Mutter, der andere von Sonja, und diesen erbrach er zuerst. Kaum hatte er einige Zeilen gelesen, als sein Gesicht erbleichte und seine Augen in freudigem Schrecken erglänzten.
»Nein, das kann nicht sein«, sagte er laut, sprang auf und ging im Zimmer umher. Hastig durchlas er den Brief mehrmals und blieb mitten im Zimmer mit offenem Munde stehen. Was er noch soeben so innig herbeigewünscht hatte, war jetzt erfüllt. Der anscheinend unlösbare Knoten, der seine Freiheit gebunden hielt, war durch diesen unerwarteten Brief Sonjas gelöst. Sie schrieb, die letzten, unglücklichen Ereignisse, durch welche fast der ganze Rest des Vermögens Rostows in Moskau verlorengegangen sei, und der oft ausgesprochene Wunsch der Gräfin, daß Nikolai die Fürstin Bolkonsky heiraten möchte, sowie auch sein Schweigen und seine Kälte in letzter Zeit hätten sie zu dem Entschluß gebracht, auf sein Versprechen zu verzichten und ihm volle Freiheit zu geben.
»Der Gedanke wäre mir unerträglich, daß ich die Veranlassung von Kummer und Zwist in der Familie sein könnte, die mir immer so viel Gutes erwiesen hat«, schrieb sie, »und darum bitte ich Sie, Nikolai, sich für frei anzusehen und überzeugt zu sein, daß dennoch niemand Sie stärker liebt als Ihre Sonja.«
Die beiden Briefe waren aus Troiza, der andere Brief war von der Gräfin. Sie beschrieb die letzten Tage ihres Aufenthalts in Moskau, die Abreise, die Feuersbrunst und den Untergang ihres Vermögens. Die Gräfin bemerkte auch, Fürst Andree sei mit ihnen und den Verwundeten von Moskau abgefahren, sein Zustand sei sehr gefährlich, jetzt aber habe der Arzt erklärt, daß mehr Hoffnung vorhanden sei. »Sonja und Natalie pflegen ihn mit großem Eifer.«
Mit diesem Brief begab sich Nikolai am andern Tag zur Fürstin Marie. Weder er noch Marie sprachen davon, was die Worte bedeuteten: »Sonja und Natalie pflegen ihn«, aber dieser Brief brachte sie plötzlich einander sehr nahe und in beinahe verwandtschaftliche Beziehungen.
Am andern Tag verabschiedete sich Rostow von der Fürstin Marie, welche nach Jaroslaw reiste, und nach einigen Tagen begab er sich zu seinem Regiment.
213
Der Brief Sonjas an Nikolai war durch die Einwirkung der alten Gräfin hervorgerufen worden, die beständig an eine reiche Heirat für Nikolai dachte. Sie wußte, daß Sonja das hauptsächliche Hindernis dafür war und deshalb versäumte sie keine Gelegenheit, Sonja durch eine grausame Anspielung zu beleidigen. Aber einige Tage vor der Abreise aus Moskau hatte die Gräfin Sonja zu sich gerufen und sie unter Tränen gebeten, sich zu opfern und für alles das, was ihr erwiesen worden sei, sich erkenntlich zu zeigen durch einen Bruch mit Nikolai.
»Ich werde keine Ruhe haben«, sagte sie, »bis du mir dies versprichst.« Sonja beteuerte unter hysterischem Weinen, sie sei zu allem bereit, gab aber noch kein bestimmtes Versprechen und konnte sich zu dem Opfer nicht entschließen. Die Sorge und die wilde Erregung der letzten Tage in Moskau halfen Sonja über die drückenden, düsteren Gedanken fort, und zuweilen erfüllte sie eine freudige, abergläubische Zuversicht, daß Gott sie nicht von Nikolai trennen werde. Sie hoffte, daß Natalie und Fürst Andree, nachdem sie unter so schrecklichen Umständen wieder zusammengeführt worden waren, von neuem einander liebten, und daß Nikolai die Fürstin Marie nicht werde heiraten können wegen der Verwandtschaft, welche eine Ehe zwischen Fürst Andree und Natalie für Nikolai und Marie zur Folge haben würde.
Im Troizkoikloster wurde zum erstenmal Rast gemacht. Die Familie nahm drei große Zimmer im Gasthause des Klosters ein, von denen das eine für Fürst Andree bestimmt wurde. Er befand sich an diesem Tage viel besser, Natalie war bei ihm, und Sonja wurde im Nebenzimmer von Neugierde gequält, was Andree und Natalie sprachen, deren Stimmen sie durch die Tür hörte. Natalie kam mit erregter Miene heraus und führte Sonja in ein leeres Zimmer.
»Sonja, wird es sein? Wird er am Leben bleiben?« fragte sie. »Ach, wie glücklich bin ich und wie unglücklich! Sonja, mein Täubchen – es ist alles wieder wie früher, wenn er nur am Leben bleibt!« Natalie brach in Tränen aus.
»Nun ja, ich wußte es ja, Gott sei Dank!« sagte Sonja. »Er wird am Leben bleiben!« Sonja war nicht weniger erregt als Natalie; küßte sie und suchte sie zu trösten. »Wenn er nur am Leben bleibt!« dachte sie beständig.
An diesem Tage bot sich eine Gelegenheit, Briefe an die Armee abzuschicken, und die Gräfin schrieb an ihren Sohn.
»Sonja«, sagte sie, als ihre Nichte vorüberging, »Sonja, du schreibst nicht an Nikolai?« Ihre Stimme zitterte und in dem Blick ihrer müden Augen las Sonja Flehen und Furcht vor einer Weigerung, aber auch Beschämung darüber, daß sie bitten mußte, und drohenden, unversöhnlichen Haß im Falle der Weigerung.
Sonja ging auf die Gräfin zu, ließ sich vor ihr auf die Knie nieder und küßte ihr die Hand.
»Ich werde schreiben!« sagte sie.
Sonja war weich gestimmt durch alles, was an diesem Tage vorging, und jetzt, wo sie