Oliver Twist. Charles Dickens
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Lange Zeit, nachdem der Arzt des Kirchspiels ihm zum Eintritt in diese Welt der Mühen und Sorgen geholfen, schien es recht zweifelhaft, ob er lange genug würde am Leben bleiben, um überhaupt einen Namen nötig zu haben.
Obwohl ich nicht behaupten möchte, dass es vielleicht ein glücklicher oder beneidenswerter Umstand wäre, der einem menschlichen Wesen zustoßen könnte, in einem Arbeitshaus geboren zu werden, so schien es doch in diesem besondern Fall für Oliver Twist das Beste, was sich augenblicklich für ihn ereignen konnte. Immerhin war es mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, ihn so weit zu bringen, dass er sich der Aufgabe des Atmens selbst unterzog, und eine Weile lang lag er als kleiner Weltbürger nach Luft schnappend auf einer Wollmatratze, bedenklich hin und her schwankend, ob er sich für diese oder jene Welt entscheiden sollte, wobei sich die Wage beträchtlich mehr für das Jenseits als für das Diesseits neigte. Wäre Oliver in diesem kritischen Zeitabschnitt von besorgten Großmüttern, ängstlichen Tanten, erfahrenen Ammen und Ärzten voll tiefer Weisheit umgeben gewesen, er hätte selbstverständlich die Stunde nicht überlebt. Da jedoch niemand zugegen war als ein armes altes Weib, das überdies infolge des ungewohnten Genusses von Bier sich in ziemlich angeheiterter Stimmung befand, und da auch der Kirchspielarzt die Sache ganz gewohnheitsmäßig behandelte, so focht Oliver seinen Kampf mit der Natur auf eigene Faust aus. Und die Folge davon war, dass er nach kurzem Kampfe atmete, nieste und endlich den Bewohnern des Arbeitshauses die Tatsache kund und zu wissen gab, dass er der Gemeinde eine neue Last aufgebürdet habe – das heißt, entschlossen sei am Leben zu bleiben. Er erhob zu diesem Zweck ein so lautes Geschrei, wie man es von einem Kind männlichen Geschlechtes füglich nur erwarten durfte.
Als Oliver diesen ersten Beweis selbstständiger Tätigkeit gab, bewegte sich eine Flickendecke, die nachlässig über eine eiserne Bettstelle geworfen war, und das bleiche Gesicht einer jungen Frau erhob sich matt von dem harten Kissen, und eine schwache Stimme hauchte mühsam die Worte: »Lassen Sie mich das Kind sehen; dann will ich gern sterben.«
Der Arzt, der, das Gesicht dem Feuer zugewandt, am Kamin saß und sich die Hände wärmte, trat bei diesen Worten der jungen Frau an das Kopfende des Bettes und sagte mit mehr Freundlichkeit im Ton, als man von ihm wohl erwartet hätte: »Sie haben durchaus keinen Grund, ans Sterben zu denken.«
»I Gott bewahre«, mischte sich die Wärterin ein und versenkte in ihrer Tasche eine grüne Flasche, von deren Inhalt sie sich bisher in einer verschwiegenen Ecke mit sichtlichem Behagen gestärkt hatte. »I Gott bewahr, wenn sie erst amal so alt g’worden is wie ich, Herr Doktor, und dreizehn Kinder g’habt hat und ihr erst alle gestorben sein werden wie mir bis auf zwei, die jetzt mit mir zusamm im Arbeitshaus sin, dann wird sie schon auf vernünftigere Gedanken kommen. Gott o Gott, denken Sie sich doch nur was es heißt, Mutter sein von so an hübschen kleinen Buberl; vergessens dös net.«
Ihre tröstlichen Worte schienen indes ihre Wirkung zu verfehlen, denn die Wöchnerin schüttelte den Kopf und streckte nur stumm ihre Arme nach dem Kinde aus. Der Arzt reichte es ihr, sie presste ihre kalten blutleeren Lippen heftig auf die Stirn des Kindes, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, blickte wild umher, schauderte zusammen, sank zurück – und starb. Sie rieben ihr Brust, Hände und Schläfen, aber das Herz hatte für immer zu schlagen aufgehört. Sie sprachen auf sie ein von Hoffnung und Zukunft, aber Hoffnung und Zuversicht waren der Armen seit langem fremd geworden.
»Es ist vorbei mit ihr, Mrs. Thingummy«, sagte der Arzt schließlich.
»Ja, ja die Arme«, sagte die Wärterin und bückte sich nach dem Pfropfen der grünen Flasche, der auf das Kissen gefallen war, als sie sich niedergebeugt, um das Kind aufzunehmen. »Das arme Kleine.«
»Sie brauchen nicht nach mir zu schicken, wenn das Kind schreien sollte«, sagte der Arzt und zog sich mit großer Sorgfalt seine Handschuhe an. »Es wird wahrscheinlich unruhig werden, dann geben Sie ihm etwas Haferschleim.« Damit setzte er seinen Hut auf und fragte, als er auf seinem Weg zur Tür an dem Bett vorüberkam. »Es war eine recht hübsche Person, wo ist sie denn hergekommen?«
»Man hat sie gestern Nacht hergeschafft«, erwiderte die alte Frau, »auf Befehl des Herrn Vorstands. Man hat sie auf der Gasse liegend gefunden. Sie muss hübsch weit hergekommen sein, denn ihre Schuhe waren zerrissen; aber wo sie herkommen ist oder wohin sie hat gehen wollen, weiß niemand.«
Der Arzt beugte sich über die Tote und ergriff ihre linke Hand. »Die alte Geschichte«, murmelte er kopfschüttelnd, »kein Ehering, wie ich sehe. Also gute Nacht.«
Damit ging er zu seinem Abendessen, und die Wärterin setzte sich, nachdem sie noch einmal der grünen Flasche zugesprochen, auf einen Stuhl in der Nähe des Kamins und begann das Kind in Windeln zu wickeln.
Da sah man wieder, wie wahr das Wort ist, dass Kleider Leute machen: bisher in ein Tuch gehüllt und in sonst nichts, hätte Oliver ebenso gut das Kind eines Adeligen wie das eines Bettlers sein können, aber jetzt, wo er in dem alten Kattunsteckkissen untergebracht war, dessen Farbe in langjährigem Dienst zu einem hässlichen Gelb verschossen war, sah man ihm sofort das Waisenkind des Arbeitshauses an, das nur dazu da war, durch die Welt geknufft zu werden, verspottet und verachtet von jedermann und von niemand bemitleidet. Oliver schrie aus vollem Halse. Hätte er gewusst, dass er eine Waise war und nur der Barmherzigkeit von Kirchenvorstehern ausgeliefert, hätte er wahrscheinlich noch viel lauter geschrien.
2 – Wie Oliver Twist aufwuchs, erzogen und verpflegt wurde.
Die nächsten acht bis zehn Monate war Oliver das Opfer systematischer Säuglingsfürsorge. Er wurde mit der Flasche aufgezogen. Von der elenden Lage des kleinen Waisenjungen machte man seitens der Vorstände des Arbeitshauses pflichtgemäß denen des Kirchspiels Meldung, worauf von letzteren in aller Form die Anfrage einlief, ob sich denn nicht im »Hause« eine Frauensperson befände, die in der Lage sei, Oliver seine natürliche Nahrung reichen zu können. Der Vorstand des Armenarbeitshauses erwiderte darauf untertänigst, dass dies leider nicht der Fall sei, worauf die Kirchspielbehörde den hochherzigen Entschluss fasste, Oliver in ein etwa drei