Oliver Twist. Charles Dickens

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Oliver Twist - Charles Dickens Klassiker bei Null Papier

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»Sie kön­nen es nicht. Sie sind über­haupt eine sehr hu­ma­ne Frau« – da­bei setz­te sie das Glas vor ihn hin – »ich wer­de nicht ver­säu­men, bei der nächs­ten bes­ten Ge­le­gen­heit es den Vor­stän­den ge­gen­über zur Spra­che zu brin­gen, Mrs. Mann«, (da­bei zog er das Glas nä­her zu sich) »Sie füh­len wie eine Mut­ter«, (da­bei er­griff er das Glas) »ich trin­ke hier­mit auf Ihre Ge­sund­heit, Mrs. Mann« (da­bei goss er das Glas zur Hälf­te hin­un­ter). »So und jetzt wol­len wir vom Ge­schäft re­den«, sag­te er und hol­te ein le­der­nes Ta­schen­buch her­vor. »Der Kna­be, der in der Wai­sen­tau­fe den Na­men Oli­ver Twist be­kom­men hat, wird heu­te neun Jah­re alt.«

      »Got­tes Se­gen über ihn«, warf Mrs. Mann da­zwi­schen und konn­te nicht um­hin, sich die Au­gen mit der Schür­ze zu trock­nen.

      »Trotz der aus­ge­schrie­be­nen Be­loh­nung von zehn Pfund, und spä­ter so­gar von zwan­zig Pfund, und trotz der ge­ra­de­zu über­na­tür­li­chen An­stren­gun­gen des Kirch­spiels«, fuhr Mr. Bum­ble fort, »sind wir nicht im­stan­de ge­we­sen, sei­nen Va­ter zu eru­ie­ren oder in Er­fah­rung zu brin­gen, wie sei­ne Mut­ter hieß, was sie war und wo­her sie stamm­te.«

      Mrs. Mann hob er­staunt die Hän­de gen Him­mel, dach­te einen Au­gen­blick nach und frag­te: »Wie kommt es denn dann, dass er über­haupt einen Na­men hat?«

      Der Kirch­spiel­die­ner warf sich in die Brust und ant­wor­te­te: »Den hab ich er­fun­den.«

      »Sie, Mr. Bum­ble?«

      »Ja­wohl, ich, Mrs. Mann. Wir be­nen­nen uns­re Zög­lin­ge im­mer nach dem Al­pha­bet. Zu­letzt hiel­ten wir bei S – Swub­ble, so nann­te ich das vor­letz­te Wai­sen­kind, und der nächs­te war ein T – Twist; ich habe eben­falls den Na­men er­fun­den. Wenn wie­der ei­ner kommt, wird er Un­win hei­ßen, und der Nächst­fol­gen­de Vil­kins. Ich habe mir schon eine gan­ze Rei­he von Na­men aus­ge­dacht, durchs gan­ze Al­pha­bet hin­durch; und wenn ich bei Z an­ge­kom­men bin, fan­ge ich beim A wie­der an.«

      »Ja, ja, Sie sind halt fast ein Dich­ter«, sag­te Mrs. Mann.

      »Nun, nun, mag sein«, gab der Kirch­spiel­die­ner zu, durch die­ses Kom­pli­ment sicht­lich ge­schmei­chelt; »mag sein, Mrs. Mann.« Da­mit trank er sein Glas aus und setz­te hin­zu: »Oli­ver ist jetzt schon viel zu alt, um noch län­ger hier blei­ben zu dür­fen. Des­halb hat die Be­hör­de be­schlos­sen, ihn wie­der zu­rück ins Ar­beits­haus zu neh­men. Ich bin sel­ber her­ge­kom­men, um ihn ab­zu­ho­len. Wo steckt er?«

      »Ich wer­de ihn so­gleich ho­len«, sag­te Mrs. Mann und ging zur Türe.

      Gleich dar­auf er­schi­en sie wie­der mit Oli­ver, der in­zwi­schen ge­wa­schen, ge­strie­gelt und an­ge­klei­det wor­den war.

      »Mach ein Buckerl vor dem Herrn, Oli­ver«, sag­te sie.

      Oli­ver mach­te einen Kratz­fuß, der zur Hälf­te dem Kirch­spiel­die­ner und zur an­de­ren Hälf­te dem Drei­spitz auf dem Ti­sche galt.

      »Willst du mit mir ge­hen, Oli­ver?« frag­te Mr. Bum­ble fei­er­lichst.

      Oli­ver woll­te schon ant­wor­ten, dass er je­der­zeit aufs be­reit­wil­ligs­te mit wem im­mer fort­zu­ge­hen wil­lens sei, blick­te aber zu­fäl­lig da­bei Mrs. Mann an, die hin­ter den Stuhl des Kirch­spiel­die­ners ge­tre­ten war und Oli­ver mit fürch­ter­li­cher Mie­ne mit der Faust droh­te. Er be­griff so­fort, denn er wuss­te nur zu gut, was die­se Faust al­les ver­moch­te.

      »Kommt sie auch mit?« frag­te er schüch­tern.

      »Nein, sie kann nicht mit­kom­men«, sag­te Mr. Bum­ble, »aber sie wird dich schon zu­wei­len be­su­chen dür­fen.«

      Das war ge­wiss kein be­son­de­rer Trost für Oli­ver, aber trotz sei­ner Ju­gend hat­te er Grüt­ze ge­nug, sich zu stel­len, als ver­lie­ße er das Haus nur un­gern, und über­dies wa­ren ihm die Trä­nen in­fol­ge des ewi­gen Hun­ger­lei­dens und der erst vor kur­z­em er­fah­re­nen Züch­ti­gung nä­her als das La­chen. Wie­der­holt um­arm­te ihn Mrs. Mann und gab ihm, was er am meis­ten brauch­te, näm­lich ein großes Stück But­ter­brot, da­mit er im Ar­beits­haus nicht all­zu hung­rig an­käme. Da­mit war die Sa­che ab­ge­macht. Mit dem Stück Brot in der Hand und sei­ner klei­nen Wai­sen­jun­gen­kap­pe aus brau­nem Tuch auf dem Kopf, wur­de er so­gleich von Mr. Bum­ble aus dem fürch­ter­li­chen Heim ge­führt, wo nie­mals der Strahl ei­nes freund­li­chen Blickes die Fins­ter­nis sei­ner ers­ten Kin­der­jah­re er­hellt hat­te. Den­noch konn­te er Trä­nen kind­li­chen Schmer­zes nicht zu­rück­drän­gen, als sich das Gar­ten­tor hin­ter ihm schloss; ver­ließ er doch sei­ne Lei­dens­ge­fähr­ten, die ein­zi­gen Ka­me­ra­den, die er je ge­kannt, und jetzt zum ers­ten Mal, seit er wuss­te, was Erin­ne­rung ist, wur­de ihm das Ge­fühl gänz­li­cher Ver­las­sen­heit in der großen wei­ten Welt be­wusst.

      Mit schnel­len Schrit­ten eil­te Mr. Bum­ble vor­wärts, und der klei­ne Oli­ver klam­mer­te sich an sei­ne mit Gold­b­or­ten be­setz­ten Schö­ße, trot­te­te ne­ben ihm her und frag­te, als sie kaum eine Vier­tel­mei­le hin­ter sich hat­ten, ob sie bald am Zie­le wä­ren. Auf die­se öf­ters wie­der­hol­ten Fra­gen gab Mr. Bum­ble je­des Mal nur sehr kur­ze und brum­mi­ge Ant­wor­ten, denn die Mil­de, die der Ge­ne­vre mit heißem Was­ser ge­mischt in sei­nem Ge­müt viel­leicht er­zeugt ha­ben müss­te, war längst ver­flo­gen, und er fühl­te sich wie­der Kirch­spiel­die­ner vom Schei­tel bis zur Soh­le.

      Oli­ver war noch nicht eine Vier­tel­stun­de in­ner­halb der Mau­ern des Ar­beits­hau­ses und hat­te kaum ein zwei­tes Stück­chen Brot ver­schlun­gen, als Mr. Bum­ble, der ihn der Ob­hut ei­ner al­ten Frau in­zwi­schen an­ver­traut, zu­rück­kehr­te und ihm er­klär­te, die Her­ren Vor­stän­de hät­ten be­foh­len, er sol­le un­ver­züg­lich vor ih­nen er­schei­nen.

      Oli­ver, der kei­ne be­son­ders kla­re Vor­stel­lung von dem hat­te, was ein Vor­stand al­les sein kann, war von die­ser über­ra­schen­den Mit­tei­lung förm­lich be­täubt und wuss­te nicht, ob er la­chen oder wei­nen soll­te. Es blieb ihm je­doch kei­ne Zeit über die­sen Punkt ins rei­ne zu kom­men, denn Mr. Bum­ble ver­setz­te ihm eins mit dem Stock über den Kopf, um sei­ne Geis­tes­kräf­te zu er­we­cken, und eins über den Rücken, um ihn zur Eile an­zu­spor­nen. Dann be­fahl er, ihm zu fol­gen, und führ­te ihn in ein großes weiß­ge­tünch­tes Zim­mer, in dem acht oder zehn wohl­be­leib­te Her­ren um einen Tisch her­umsa­ßen. Zu oberst in ei­nem Arm­stuhl, der ein biss­chen hö­her war als die üb­ri­gen, ein ganz be­son­ders wohl­be­leib­ter Herr mit ei­nem ku­gel­run­den ro­ten Kopf.

      »Mach’ den Herrn Vor­stän­den dei­ne Ver­beu­gung«, be­fahl Mr. Bum­ble.

      Oli­ver wisch­te sich die Trä­nen aus den Au­gen und, da er nicht recht be­griff, wer von den An­we­sen­den die Her­ren Vor­stän­de sein könn­ten, mach­te er in­stink­tiv und aufs Ge­ra­te­wohl einen Kratz­fuß.

      »Wie heißt du, Jun­ge?« frag­te der Herr auf dem ho­hen Stuhl.

      Oli­ver

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