Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada
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Aus einer gefundenen alten Sardinenbüchse hatte er sich eine Reibe gemacht, indem er in ihren Boden mit einem Nagel Löcher geschlagen hatte, und auf dieser Reibe rieb er Petersilienwurzeln, Sellerieknollen, Mohrrüben, ja, wenn der Hunger sehr arg war, sogar rohe Kartoffeln. Mit all diesen Kleinigkeiten, die einem Menschen »draußen« ganz selbstverständlich erscheinen, verschönte er sich sein stilles, schlichtes Leben, brachte ein wenig Freude hinein, wusste immer etwas, auf das er sich freuen konnte. Er spielte nie bei einem Spiel mit, entweder, weil er es nicht konnte, oder nicht wollte, las nie eine Zeitung, hörte beim Radio nur die leichteste Tanzmusik an. »Das macht mir Laune!«, sagte er dann, in seinen Augen war ein wenig Licht, und er lächelte ein seltenes, rührendes Lächeln.
Alles in allem ein bescheidener, ruhiger Mensch – ich bin froh, dass ich mich nie ernstlich nach seiner Straftat erkundigt habe, ich möchte mir dieses Bild nicht schwärzen.
54
Das waren die drei Schlafkameraden, mit denen ich in jener ersten Nacht die Zelle teilte, auf deren Schlafatem ich lauschte, während Scham, Reue und Zorn mein Herz zerrissen. Vor den Fenstern stand die Nacht, manchmal hob ich den Kopf und sah ein paar Sterne blinken; ich hatte mal ein Gedicht von ihnen gelesen, dass sie seit Jahrtausenden mit dem gleichen kühlen Glitzern auf menschliches Leid und menschliche Freude herabblicken. Damals hatte mich das nicht berührt, jetzt rührte es mich an, und ich fragte mich, ob diese Sterne wohl wirklich je ein so verzweifeltes, ein so unsinnig eingetretenes Leid gesehen hatten wie das über mich gekommene. Beinahe schien es mir unmöglich.
Und wie die nächtlichen Stunden langsam mit Glockenschlag um Glockenschlag vorrückten, eine nach der anderen dem neuen Morgen zu, dachte ich milder an Magda und den listigen Medizinalrat und schwor es mir wieder einmal zu, das nächste Mal klüger zu sein und wahrhaftiger. Ich überzeugte mich, dass noch nichts verloren war, und ich erdichtete lange Gespräche mit dem Arzt, in denen ich eine seltene Schlagfertigkeit und einen bezaubernden Freimut bewies. Schließlich – anderthalb Stunden vor Aufschluss – schlief ich wirklich noch ein.
Ich war im Traum in meiner Vaterstadt, ich ging durch ihre Straßen und Gassen, ich sah viele Freunde und Bekannte, aber sie sahen mich nicht und gingen ohne Gruß an mir vorbei. Schließlich sah ich Magda auf jener Bank unserer ersten Schülerbekanntschaft sitzen, ich ging auf sie zu und setzte mich sachte neben sie. Aber sie bemerkte mich nicht. Ich wollte ihr Kleid berühren, ich erhob die Hand, aber ich konnte das Kleid nicht fassen. Ich wollte zu Magda sprechen, und ich sprach auch, aber meine Stimme hatte keinen Klang, ich hörte sie nicht, und Magda hörte sie auch nicht. Da begriff ich mit heißem Erschrecken, dass ich nur als ein Schatten zwischen den Lebenden wandelte, dass ich gestorben und tot war. Ich erschrak aber so, dass ich erwachte – da klirrte der Schlüssel des Oberpflegers im Schloss, und seine Stimme rief: »Aufstehen!«
Ja, ein neuer Morgen war da, und nun war ich nicht mehr Gast im Totenhaus, sondern ich war eingereiht in die Schar der anderen, wie alle schleppte ich meine dürren Stunden dahin. Sie machten kein Aufhebens mehr von mir, sie sprachen mit mir, und dann fingen sie Streit mit mir an, sie schubsten mich im Waschraum von den Becken weg und verhöhnten mich, wenn ich versuchte, mit einem zugeschnittenen Hölzchen meine Fingernägel sauber zu halten. »Seht den! Wozu er das wohl macht? Er steckt doch genau so tief wie wir in der Scheiße!«
Und ich machte meine kleinen Geschäfte wie sie, ich sparte meinem brüllenden Hunger eine Scheibe Brot ab und verhandelte sie gegen ein paar Krumen Tabak, und das erste Mal wurde ich dabei betrogen: Der Tabak war wenig, aber trockene Rosenblätter waren viel in ihn gemischt.
Ich habe auch – ich will auch das gestehen – unserem Kalfaktor Herbst einmal zwei dick mit Margarine bestrichene Scheiben Brot gestohlen, die der unter seinem Kopfkeil versteckt hatte. Ich war aber so aufgeregt, dass sie mir weder geschmeckt haben noch bekommen sind. Das war aber auch das einzige Mal, dass ich etwas direkt gestohlen habe. Ich bin ein schwacher Mensch, das weiß ich nun, aber ich bin kein Dieb. Meine Angst ist immer größer als meine Gier, also auch darin schwach.
Und an diesem ersten Tage, als der Ruf zum »Antreten« erscholl, trat auch ich mit an, wie gesagt, auch ich war eingereiht, ich hatte vor niemandem etwas voraus. Ein Wachtmeister kam und führte mich in eine Einzelzelle, in der kein Bett war, sondern ein Tisch und ein Schemel und vielerlei Arbeitsmaterial, das ich mit ängstlich staunenden Augen ansah, gewiss, dass ich ungeschickter Mensch solch nie getane Arbeit im Leben nicht lernen würde. Da sah ich die fertig zugeschnittenen Bürsten- und Besenhölzer und Haarborsten und solche aus Reisstroh und solche aus Piassava1 und sogar solche aus Strandhafer für die verschiedenen Arten von Bürsten und Besen, wie ich alles noch lernen sollte. Ich sah Rollen mit dickerem und dünnerem Draht und ein Schneidemesser, nein, das würde ich nie lernen!
Es kam keiner, ich war eingeschlossen in meiner Zelle – sollte ich, da ich den Arzt so dringend um die Befreiung von Lexer gebeten hatte, jetzt die Bürsten ganz ohne Lehrmeister machen? Ich versuchte es, ich fasste ein paar Borsten und versuchte, sie in eins der vorgebohrten Löcher zu stecken. Es waren aber zu wenig gewesen, und sie fielen gleich wieder durch. Das andere Mal nahm ich mehr, aber nun waren es zu viel, und als ich sie in das Loch zwingen wollte, brachen die einen, und die anderen fielen zur Erde.
Ich bückte mich, um rasch die Unordnung zu beseitigen, da klirrte wieder das Schloss, der kleine Lexer mit den schwärzlich-bräunlichen Hauerzähnen sprang herein, fasste mich vor der Brust und schrie gellend: »Wo hast du die Rasierklinge gelassen? Mich scheißt du nicht an, Sommer!«
Ich riss mich zornig von ihm los und rief: »Fass mich nicht noch einmal an, du, das rate ich dir! Was gehen mich deine Lügengeschichten an!«
Der kleine Kerl sah mich einen Augenblick verblüfft und stumm an, dann lachte er wieder hässlich und sagte: »Na schön, wie du willst! Aber eines Tages scheiße ich dich doch wieder an!« (Er hat mich aber von nun an ziemlich in Ruhe gelassen, wie ich schon berichtet habe.) Und in ganz plötzlichem Übergang: »Hast du nicht ’nen Priem für mich, ’nen ganz kleinen, Sommer?«
Ich hatte keinen und sagte es ihm, und er meinte ärgerlich: »Mit dir ist auch gar nichts anzufangen!