Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada
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»Also«, schloss schließlich der Arzt, »ich habe Ihnen noch nichts Festes versprochen, das kann ich ja auch gar nicht. Ich werde in – sagen wir – drei oder vier Wochen mein Gutachten erstatten, dann wird das Gericht den Termin ansetzen, Sie werden eine kleine Strafe erhalten, vielleicht vier Wochen, vielleicht nur vierzehn Tage …«
»So wenig?«, rief ich erstaunt aus.
»Nun, darüber fragen Sie lieber einen Juristen, ich möchte Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, ich bin nur Arzt. Und wenn Sie dann in der Freiheit sind …«
»Werde ich immer an dieses Haus denken, Herr Medizinalrat, das verspreche ich Ihnen!«, schloss ich.
58
Dieser Besuch veränderte auf einen Schlag mein Fühlen, mein Denken, mein ganzes Leben. Plötzlich sah ich diese jüngst vergangene Zeit mit ganz anderen Augen an: Nicht in einer fast behaglichen Wunschlosigkeit und Selbstgenügsamkeit hatte ich gelebt, sondern in einer Lähmung meines Willens, in einer fast völligen Hoffnungslosigkeit, in Apathie. Jetzt erst begriff ich, wie gering meine Hoffnung gewesen war, diesem grauenhaften Hause zu entrinnen, wie ich fast schon mit dem Leben abgeschlossen hatte. Holzens Freude an den kleinen Dingen dieser Erde schien mir nun billig und dumm, und ich elendete abends den Geduldigen mit langen Tiraden über all das, was ich nach meiner Entlassung tun würde. Denn ich hatte die Absicht, sehr tätig zu sein.
Wohl hatte mich der Arzt wegen seiner Offenheit um Entschuldigung gebeten, aber die Bemerkung von der überlegenen Tüchtigkeit Magdas konnte ich ihm nicht verzeihen. Je länger ich darüber nachdachte, um so falscher schien sie mir. Wenn ich erst wieder draußen war, würde ich ihm und Magda und aller Welt beweisen, wie tüchtig ich erst sein konnte. Und ich plagte den guten Holz mit langen Schilderungen über die Möglichkeiten des Landesproduktenhandels, Möglichkeiten, die ich natürlich alle blitzschnell erfassen und ausnutzen würde.
Umsonst warnte mich der durch langes Dulden Erfahrene. »Sommer, du bist noch nicht draußen! Mach nicht zu viel Pläne! Wer weiß, was nicht noch alles passieren kann!?«
Ich rief: »Was soll denn noch passieren? Von mir hängt jetzt alles ab, und meiner selbst bin ich sicher.«
Auch in meinem Arbeiten an den Bürsten hatte ich mich sehr geändert. Nicht, dass ich schlechter gearbeitet hätte, das konnten meine Hände schon nicht mehr, sie konnten schon den leitenden Verstand entbehren, und meine Ablieferung wurde auch kaum geringer. Aber ich arbeitete ganz stoßweise.
Einen halben Tag stand ich am Zellenfenster, sah stundenlang die rasch ziehenden Wolken am Himmel an, freute mich an Wiese, Vieh und Wald und sah lächelnd den auf ihren Rädern vorüberflitzenden Mädels nach. Bald würde ich wieder zu alledem gehören, ein Teil der Welt sein, nicht mehr herausgelöst aus ihr und bei lebendigem Leibe schon tot!
Dann wieder dachte ich an die Worte des Medizinalrates und stürzte mich mit Feuereifer in die Bürstenmacherei. Die Arbeit flog mir nur so durch die Hände. Jeder Griff saß, in zwei Stunden war die feinste Nagelbürste fertig. Manchmal dachte ich dabei mit Sehnsucht an Magda und empfand den lebhaften Wunsch, sie möchte mir bei meiner Arbeit einmal zusehen. Auch ich konnte tüchtig sein, ungewöhnlich tüchtig!
Selbst das Verhältnis zu meinen Arbeitskameraden war seit dieser Unterredung wesentlich verändert. War ich ihnen bisher still aus dem Wege gegangen, hatte mich nie in ihre Streitereien gemischt und jedem seine Art gelassen, sie mochte noch so abstoßend sein, so befähigte mich meine jetzige gute Laune, lebhaft in die Unterhaltung einzugreifen und auch einmal einem unangenehmen Menschen zuzurufen: »Thiede, leck doch nicht den Tisch mit der Zunge ab! Ist Sauce verkleckert, so nimm deinen Löffel!«
Ich kann nicht behaupten, dass meine Leidensgenossen diese Veränderung meines Wesens ins Lebhafte günstig aufnahmen. Meine witzigen Bemerkungen wurden meist mit tiefem, ablehnendem Stillschweigen aufgenommen, und meine Ermahnungen zu guter Sitte lenkten wüste Beschimpfungen auf mein Haupt. Das focht mich aber in meiner guten Stimmung fast gar nicht an. Ich dachte nur bei mir: ›Ihr armen Irren! In ein paar Wochen werde ich draußen sein, während ihr euer ganzes Leben in diesen Mauern hinbringen werdet. Was geht mich da euer Schimpfen an?! Ihr existiert einfach nicht für mich!‹
Die Veränderung meiner Denkart zeigte sich aber nicht nur in meinem Benehmen innerhalb der Heilanstalt, sie sollte auch nach außen wirken. Nachdem ich ein paar Nächte mit mir gerungen, auch den Fall gründlich mit Holz besprochen hatte, der mir entschieden abriet, ließ ich den alten Justizrat Holsten kommen, einen schon etwas altmodisch gewordenen Herrn, der aber bei den angesehenen Bürgern der Stadt größtes Ansehen genoss und der auch meiner Firma bei gelegentlich auftauchenden Rechtsfragen mit Rat und Tat zur Seite gestanden hatte.
Ich setzte mit ihm eine Generalvollmacht für Magda auf und verfasste ein Testament, in dem ich Magda zu meiner Alleinerbin einsetzte. Ich beauftragte den alten Herrn, die Vollmacht schon am nächsten Tage in die Hände meiner Frau, das Testament aber an Gerichtsstelle zu hinterlegen. Dies war mein Dank an Magda für die schöne Art, in der sie über mich mit dem Medizinalrat geredet hatte, ich freute mich, dass ich ihr so wirkungsvoll danken konnte.
Holz freilich, der in dieser Zeit gar nicht mit mir gehen wollte, stöhnte: »Wenn du das nur nicht eines Tages bereust, Sommer! Man soll sich nie einem Menschen ganz in die Hände geben, das verbietet doch die einfachste Vorsicht. Und wozu auch? Es hat keiner von dir verlangt, warum tust du es also.«
»Ich bin immer ein großzügiger Mensch gewesen, Holz«, antwortete ich ihm. »Ich habe immer eine Leidenschaft für Schenken gehabt.«
Ich muss übrigens noch bemerken, dass der Justizrat ganz und gar nicht damit zufrieden war, diese beiden Urkunden für mich abzufassen