Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

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Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada Gesammelte Werke bei Null Papier

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Jus­tiz­rat war ent­setzt über mei­ne »Leicht­fer­tig­keit«, wie er es nann­te. »Es ist nie eine Klei­nig­keit«, rief der alte Mann fast em­pört, »wenn ein an­ge­se­he­ner Bür­ger ins Ge­fäng­nis ge­hen muss, nicht nur sei­net­we­gen, son­dern vor al­lem auch um des bö­sen Bei­spiels wil­len! Las­sen Sie mich Ihre Ver­tei­di­gung über­neh­men, Herr Som­mer, viel­leicht, bei­na­he si­cher kann ich Be­wäh­rungs­frist für Sie er­wir­ken. Dann ver­mei­den Sie we­nigs­tens die ent­eh­ren­de Ge­fäng­nis­haft.«

      »Mei­ne Ehre liegt al­lein bei mir«, sag­te ich stolz. »Die kön­nen mir an­de­re nicht neh­men.«

      Der alte Mann schüt­tel­te mit ei­nem trü­ben Lä­cheln ver­nei­nend den Kopf.

      »Im Üb­ri­gen han­delt es sich um ein im Af­fekt be­gan­ge­nes Ver­ge­hen, und die Fol­gen ei­nes sol­chen Ver­ge­hens kön­nen nie ent­eh­rend sein.«

      Wie­der schüt­tel­te der alte Mann trau­rig den Kopf. »Das ist eine Spra­che«, sag­te er, »die ich in sol­chen Mau­ern häu­fig ge­nug ge­hört habe, aus Ihrem Mun­de hät­te ich sie lie­ber nicht ge­hört. Wie steht es denn mit dem Gut­ach­ten des Kreis­phy­si­kus? Wis­sen Sie et­was da­von?«

      Ich ver­si­cher­te, dass al­les äu­ßerst güns­tig ste­he und dass der Me­di­zi­nal­rat mei­ne Un­ter­brin­gung in ei­ner Heil- und Pfle­gean­stalt nicht für not­wen­dig hal­te.

      »Ich will es hof­fen, hof­fen will ich es von Her­zen«, rief der Jus­tiz­rat Hol­s­ten. »Nun, Herr Som­mer, jetzt muss ich mich ver­ab­schie­den. Und wenn Sie mich ge­gen Ihr jet­zi­ges Er­war­ten doch brau­chen soll­ten, Sie kön­nen mich je­der­zeit ru­fen. Ich scheue trotz mei­ner Jah­re den wei­ten Weg aus der Stadt in die­se An­stalt nicht, wenn ich Ih­nen nur hel­fen kann.«

      Ich dank­te ihm fast ge­rührt, war aber über­zeugt, dass ich sei­nen Rat nie brau­chen wür­de und dass ich mich in ei­nem wirk­li­chen Not­fal­le un­be­dingt an einen jün­ge­ren und ge­schick­teren An­walt als an ihn wen­den wür­de.

      59

      So ver­gin­gen mir die nächs­ten Wo­chen in ver­hält­nis­mä­ßi­gem Frie­den und Be­ha­gen, ei­nem an­de­ren Frie­den, als ich vor die­ser Un­ter­re­dung mit dem Arzt emp­fun­den hat­te, ei­nem ak­ti­ver­en, mit Plä­nen und Hoff­nun­gen aus­ge­füll­ten Frie­den. Ich schlief wie­der schlech­ter, aber das konn­te mei­ne gute Stim­mung nicht mehr be­ein­träch­ti­gen: Ich war nur noch zu Gast in die­sem To­ten­haus.

      Ich er­war­te­te täg­lich die An­kla­ge­schrift und die An­set­zung des Ter­mins, und wenn sie doch wie­der nicht ge­kom­men wa­ren, so hoff­te ich auf den nächs­ten Tag. Das Hof­fen im Men­schen ist wohl un­ver­wüst­bar, ich glau­be, was als Letz­tes im Hirn ei­nes Ster­ben­den ver­geht, ist eine Hoff­nung. Der Arzt ließ mich nicht mehr zu sich kom­men, ich sah ihn nach die­ser Un­ter­re­dung nicht mehr, ein Zei­chen, dass er sein Gut­ach­ten ab­ge­schlos­sen und der Staats­an­walt­schaft ein­ge­reicht hat­te.

      Um­sonst ver­such­ten mei­ne Ka­me­ra­den, mich ängst­lich zu ma­chen. »Trau du dem falschen Hund! Ins Ge­sicht sagt er es dir so, und auf dem Pa­pier macht er es ganz an­ders.«

      Ich lä­chel­te über­le­gen. So et­was mach­te der Arzt viel­leicht mit ih­res­glei­chen, mir ge­gen­über hat­te er sich so po­si­tiv aus­ge­spro­chen, dass an ei­nem güns­ti­gen Er­geb­nis über­haupt nicht zu zwei­feln war. Über­haupt wur­de der Mann ganz falsch be­ur­teilt – auch ich war ihm in der ers­ten Zeit nicht ge­recht ge­wor­den. Das lag an sei­nem manch­mal über­heb­li­chen, höh­ni­schen We­sen, das einen ab­stieß. Aber er war ein Mann von Kennt­nis­sen und Ein­sicht, wo er konn­te, gab er je­dem eine Chan­ce. Wo es frei­lich ganz un­mög­lich war …

      Eine ein­zi­ge Sa­che nur wirk­te sich stö­rend in die­ser Zeit aus: Die Fol­gen der Un­ter­er­näh­rung mach­ten sich auch bei mir be­merk­bar, ich wur­de eben­falls von ei­ner recht stö­ren­den Fu­run­ku­lo­se be­fal­len. So­lan­ge die meist un­ter der Epi­der­mis sit­zen­den »Schweins­beu­len« nur an den Ar­men und Bei­nen auf­tauch­ten, ging es noch ei­ni­ger­ma­ßen, als sie aber auch im Na­cken und auf dem Rücken auf­tauch­ten, litt ich doch recht un­ter ih­nen. Na­ment­lich, dass ich nachts nun auf dem Bauch lie­gen muss­te, eine Stel­lung, in der ich nie habe schla­fen kön­nen, war sehr un­an­ge­nehm.

      Nun ge­hör­te auch ich zu der lan­gen Rei­he de­rer, die je­den Mor­gen vor dem Arzt­zim­mer an­tra­ten und von dem Ober­pfle­ger ge­salbt oder ge­schnit­ten und schließ­lich ver­pflas­tert wur­den. Ich bin über­zeugt, eine et­was ver­nünf­ti­ge­re Er­näh­rung mit fri­schem Ge­mü­se und Obst hät­te die Ur­sa­che die­ser als ganz selbst­ver­ständ­lich an­ge­se­he­nen Pest eher be­sei­tigt als die­ses ewi­ge He­rum­dok­tern an den Fol­gen. Aber dar­an dach­te nie­mand. Uns wur­de un­ser Pflas­ter ge­ge­ben und da­mit fer­tig! Im Gan­zen konn­te auch die­se Pla­ge mir frei­lich in mei­ner jet­zi­gen hoch­ge­mu­ten Stim­mung we­nig an­ha­ben.

      ›Wenn ich erst drau­ßen bin …‹, das war der Ge­dan­ke, den ich je­den Tag hun­dert­mal hat­te. Es war auch ganz selbst­ver­ständ­lich, dass ich mich jetzt wie­der mehr mit mei­nem Äu­ße­ren zu be­schäf­ti­gen an­fing, da ich nun in viel­leicht schon kur­z­er Zeit ent­las­sen wer­den wür­de. Ich fing wie­der an, mei­ne Hän­de, be­son­ders mei­ne Nä­gel, zu pfle­gen, die un­ter der Ar­beit ge­lit­ten hat­ten. Ich ließ mir die Haa­re schnei­den und wusch zwei-, drei­mal wö­chent­lich mei­ne Füße. Vor al­lem aber be­schäf­tig­te ich mich mit mei­nem Ge­sicht. Zu je­ner Zeit war der Ver­band ge­fal­len und mei­ne Nase längst ver­heilt. Ich hat­te mich im­mer ge­scheut, mein Ge­sicht zu be­se­hen, und das war mir leicht ge­macht, da es kei­nen of­fi­zi­el­len Spie­gel in der An­stalt gab und das Ra­sie­ren von Lexer mit dem »Clip­per« be­sorgt wur­de. Nun aber wur­de das an­ders. Ich wuss­te, der Kal­fak­tor Herbst be­saß einen klei­nen Spie­gel, den er beim Haar­schei­teln stän­dig zu­ra­te zog. Ich borg­te ihn mir jetzt manch­mal von ihm aus.

      Na­tür­lich spot­te­te er: »Wozu brauchst du denn einen Spie­gel? Willst dir wohl dei­ne Gur­ke be­trach­ten? Das lass man, die ist auch ohne An­se­hen schön ge­nug!« Er hat­te ge­nau das Rich­ti­ge mit sei­ner Ver­mu­tung ge­trof­fen, aber das brauch­te er nicht zu wis­sen. Ich mur­mel­te et­was von mei­nen Schweins­beu­len.

      Als ich mei­ne Nase zu­erst im Spie­gel sah, er­schrak ich sehr. Sie war durch den Biss völ­lig de­for­miert, kurz vor der Na­sen­spit­ze hat­te sich ein tiefer Sat­tel ge­bil­det, aus dem sich die Spit­ze schief und mit brand­ro­ten Nar­ben be­deckt er­hob. Sie sah wirk­lich ab­scheu­lich aus, ich war völ­lig ent­stellt. (Die­ser ver­damm­te Po­la­kow­ski! An mei­nem gan­zen Un­glück ist ei­gent­lich die­ser Po­la­kow­ski schuld!)

      Auch die wei­te­re Prü­fung mei­nes Ge­sich­tes be­frie­dig­te mich nicht, die Fol­gen des Hun­gers präg­ten sich be­reits deut­lich in ihm aus. Es war fast asch­far­ben, die Au­gen tief in die Höh­len ge­sun­ken. Ein fünf Tage al­ter spitz­stopp­li­ger Bart be­deck­te den un­te­ren Teil des Ge­sich­tes. Der

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