Die Wahrheit kann warten. Arthur Schopenhauer

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Die Wahrheit kann warten - Arthur  Schopenhauer Klassiker der Weltliteratur

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mittels der Allgewalt des Geschlechtstriebes und vermöge des unberechenbaren Überschusses der Keime, welcher, bei Pflanzen, Fischen, Insekten, das Individuum oft mit mehreren Hunderttausenden zu ersetzen bereit ist, so kommt man auf die Vermutung, dass, wie der Natur die Hervorbringung des Individuums ein Leichtes ist, so die ursprüngliche Hervorbringung einer Gattung ihr äußerst schwer werde. Demgemäß sehen wir diese nie neu erstehen […] und die höchst wenigen untergegangenen Species der jetzt die Erde bevölkernden Fauna […] vermag die Natur, obwohl sie in ihrem Plan gelegen haben, nicht wieder zu ersetzen – daher wir stehen und uns wundern, dass es unserer Gier gelungen ist, ihr einen solchen Streich zu spielen.

      § 74 Unter philosophisch rohen Leuten, denen alle die beizuzählen sind, welche die kantische Philosophie nicht studiert haben […], welche getrost auf der Grundlage ihres Katechismus philosophieren, besteht noch der alte, grundsätzliche Gegensatz zwischen Geist und Materie. […]

      In Wahrheit aber gibt es weder Geist noch Materie, wohl aber viel Unsinn und Hirngespinste in der Welt. Das Streben der Schwere im Stein ist geradeso unerklärlich wie das Denken im Menschlichen Gehirn, würde also aus diesem Grund auch auf einen Geist im Stein schließen lassen. Ich würde daher zu jenen Disputanten sagen: Ihr glaubt eine tote, das heißt vollkommen passive und eigenschaftslose Materie zu erkennen, weil ihr alles das wirklich zu verstehen wähnt, was ihr auf mechanische Wirkung zurückzuführen vermögt. Aber wie die physikalischen und chemischen Wirkungen euch eigenständig unbegreiflich sind, solange ihr sie nicht auf mechanische zurückzuführen wisst, geradeso sind diese mechanischen Wirkungen selbst, also die Äußerungen, welche aus der Schwere, der Undurchdringlichkeit, der Kohäsion, der Härte, der Starrheit, der Elastizität, der Fluidität usw. hervorgehen, ebenso geheimnisvoll wie jene, ja, wie das Denken im Menschenkopf. Kann die Materie, ihr wisst nicht warum, zur Erde fallen, so kann sie auch, ihr wisst nicht warum, denken. Das wirklich rein und durch und durch, bis auf das Letzte, Verständliche in der Mechanik geht nicht weiter als das rein Mathematische in jeder Erklärung, ist also beschränkt auf Bestimmungen des Raumes und der Zeit. Nun sind aber diese beiden, samt ihrer ganzen Gesetzlichkeit, uns a priori bewusst, sind daher bloße Formen unseres Erkennens und gehören ganz allein unseren Vorstellungen an. Ihre Bestimmungen sind also im Grunde subjektiv und betreffen nicht das rein Objektive, das von unserer Erkenntnis Unabhängige, das Ding an sich selbst. Sobald wir aber selbst in der Mechanik weiter gehen als das rein Mathematische, sobald wir zur Undurchdringlichkeit, zur Schwere, zur Starrheit oder Fluidität oder Gaseität kommen, stehen wir schon bei Äußerungen, die uns ebenso geheimnisvoll sind wie das Denken und Wollen des Menschen, also beim direkt Unergründlichen: Denn ein solches ist jede Naturkraft. Wo bleibt nun also jene Materie, die ihr so intim kennt und versteht, dass ihr alles aus ihr erklären, alles auf sie zurückführen wollt? – Rein begreiflich und ganz ergründlich ist immer nur das Mathematische, weil es das im Subjekt, in unserem eigenen Vorstellungsapparat Wurzelnde ist. Sobald aber etwas eigentlich Objektives auftritt, etwas a priori nicht Bestimmbares, da ist es auch sofort in letzter Instanz unergründlich. Was überhaupt Sinne und Verstand wahrnehmen, ist eine ganz oberflächliche Erscheinung, die das wahre und innere Wesen der Dinge unberührt lässt. Das wollte Kant. Nehmt ihr nun im Menschenkopf, als Deus ex machina, einen Geist an, so müsst ihr, wie gesagt, auch jedem Stein einen Geist zugestehen. Kann hingegen eure tote und rein passive Materie als Schwere streben oder als Elektrizität anziehen, abstoßen und Funken schlagen, so kann sie auch als Gehirnbrei denken. Kurz, jedem angeblichen Geist kann man Materie, aber auch jeder Materie Geist unterlegen, woraus sich ergibt, dass der Gegensatz falsch ist. […]

      § 93 Das Leben lässt sich definieren als der Zustand eines Körpers, darin er, unter beständigem Wechsel der Materie, seine ihm wesentliche (substanzielle) Form allezeit behält. – Wollte man mir einwenden, dass auch ein Wasserstrudel oder Wasserfall seine Form unter stetem Wechsel der Materie behält, so wäre zu antworten, dass bei diesen die Form durchaus nicht wesentlich, sondern, allgemeine Naturgesetze befolgend, durch und durch zufällig ist, indem sie von äußeren Umständen abhängt, durch deren Veränderung man auch die Form beliebig ändern kann, ohne dadurch das Wesentliche anzutasten.

      § 99 Mir hat die Ansicht gar sehr eingeleuchtet, dass die akuten Krankheiten, von einigen Ausnahmen abgesehen, nichts anderes sind als Heilungsprozesse, welche die Natur selbst einleitet, zur Abstellung irgendeiner im Organismus eingerissenen Unordnung; zu welchem Zwecke nun die vis naturae medicatrix8, mit diktatorischer Gewalt bekleidet, außerordentliche Maßregeln ergreift, und diese machen die fühlbare Krankheit aus. Den einfachsten Typus dieses so allgemeinen Hergangs liefert uns der Schnupfen. Durch Erkältung ist die Tätigkeit der äußeren Haut paralysiert und hierdurch die so mächtige Exkretion mittels der Exhalation9 aufgehoben, welches den Tod des Individuums herbeiführen könnte. Da tritt alsbald die innere Haut, die Schleimhaut, für jene äußere vikarierend10 ein: Hierin besteht der Schnupfen, eine Krankheit. Offenbar ist aber diese bloß das Heilmittel des eigentlichen, aber nicht fühlbaren Übels, des Stillstandes der Hautfunktion. Diese Krankheit, der Schnupfen, durchläuft nun dieselben Stadien wie jede andere: den Eintritt, die Steigerung, die Akme11 und die Abnahme. Anfangs akut, wird sie allmählich chronisch und hält nun als solche an, bis das fundamentale, aber selbst nicht fühlbare Übel, die Lähmung der Hautfunktion, vorüber ist. Daher ist es lebensgefährlich, den Schnupfen zurückzutreiben. Derselbe Hergang macht das Wesen der allermeisten Krankheiten aus, und diese sind eigentlich nur das Medikament der vis naturae medicatrix. […]

      8 Die heilende Kraft der Natur.

      9 Ausscheidung mittels Ausdünstung.

      10Stellvertretend.

      11Höhepunkt.

      ZUR ETHIK

      § 108 Physikalische Wahrheiten können viel äußere Bedeutsamkeit haben, aber die innere fehlt ihnen. Diese ist das Vorrecht der intellektuellen und moralischen Wahrheiten, welche die höchsten Stufen der Objektivation des Willens zum Thema haben, während jene die niedrigsten. Zum Beispiel wenn wir Gewissheit darüber erlangen, dass, wie man jetzt nur mutmaßt, die Sonne am Äquator Thermoelektrizität, diese den Magnetismus der Erde und dieser das Polarlicht verursacht, so wären diese Wahrheiten von vieler äußeren Bedeutsamkeit, an innerer aber arm. Beispiele von dieser letzteren hingegen liefern nicht nur alle hohen und wahren Philosopheme, sondern auch die Katastrophe jedes guten Trauerspiels, ja auch die Beobachtung menschlichen Handelns in den extremen Äußerungen der Moralität und Immoralität desselben, also der Bosheit und Güte: Denn in allen diesen tritt das Wesen hervor, dessen Erscheinung die Welt ist, und legt, auf der höchsten Stufe der Objektivation, sein Inneres zutage.

      § 109 Dass die Welt bloß eine physische, keine moralische Bedeutung habe, ist der größte, der verderblichste, der fundamentale Irrtum, die eigentliche Perversität der Gesinnung, und ist wohl im Grunde auch das, was der Glaube als den Antichrist personifiziert hat. Dennoch und allen Religionen zum Trotz, welche sämtlich das Gegenteil davon behaupten und solches in ihrer mythischen Weise zu begründen suchen, stirbt jener Grundirrtum nie ganz auf Erden aus, sondern erhebt immer, von Zeit zu Zeit, sein Haupt von Neuem, bis ihn die allgemeine Indignation abermals zwingt, sich zu verstecken. […]

      § 114 Immer von Neuem fühlt sich, wer unter Menschen lebt, zu der Annahme versucht, dass moralische Schlechtigkeit und intellektuelle Unfähigkeit eng zusammenhängen, indem sie direkt einer Wurzel entsprössen. […] Jener Anschein, der bloß daraus entspringt, dass man beide so gar oft beisammen findet, ist gänzlich aus dem sehr häufigen Vorkommen beider zu erklären, infolgedessen ihnen leicht begegnet, unter einem Dache wohnen zu müssen. Dabei ist aber nicht zu leugnen, dass sie einander zu gegenseitigem Vorteil in die Hände spielen, wodurch denn die so unerfreuliche Erscheinung zustande kommt, welche nur zu viele Menschen darbieten, und die Welt geht, wie sie geht. Namentlich ist der Unverstand dem deutlichen Sichtbarwerden der Falschheit, Niederträchtigkeit und Bosheit günstig, während die

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