Die Wahrheit kann warten. Arthur Schopenhauer

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Die Wahrheit kann warten - Arthur  Schopenhauer Klassiker der Weltliteratur

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Verstand ganz wohl gewachsen wäre.

      Jedoch, es erhebe sich keiner. Wie jeder, auch das größte Genie, in irgendeiner Sphäre der Erkenntnis entschieden borniert ist und dadurch seine Stammverwandtschaft mit dem wesentlich verkehrten und absurden Menschengeschlecht beurkundet, so trägt auch jeder moralisch etwas durchaus Schlechtes in sich, und selbst der beste, ja edelste Charakter wird uns bisweilen durch einzelne Züge von Schlechtigkeit überraschen, gleichsam, um seine Verwandtschaft mit dem Menschengeschlecht, unter welchem jeder Grad von Nichtswürdigkeit, ja Grausamkeit, vorkommt, anzuerkennen. Denn gerade kraft dieses Schlechten in ihm, dieses bösen Prinzips, hat er ein Mensch werden müssen. Und aus demselben Grunde ist überhaupt die Welt das, als was mein treuer Spiegel derselben sie gezeigt hat. […]

      Daher eben kommen die vierbeinigen Freundschaften so vieler Menschen besserer Art: Denn freilich, woran sollte man sich von der endlosen Verstellung, Falschheit und Heimtücke der Menschen erholen, wenn die Hunde nicht wären, in deren ehrliches Gesicht man ohne Misstrauen schauen kann? – Ist doch unsere zivilisierte Welt nur eine große Maskerade. Man trifft daselbst Ritter, Pfaffen, Doktoren, Advokaten, Priester, Philosophen und was nicht alles an! Aber sie sind nicht, was sie vorstellen: Sie sind bloße Masken, unter welchen, in der Regel, Geldspekulanten (moneymakers) stecken. Doch nimmt auch wohl einer die Maske des Rechts, die er sich dazu beim Advokaten geborgt hat, vor, bloß um auf einen anderen tüchtig losschlagen zu können; wieder einer hat, zum selben Zweck, die des öffentlichen Wohls und des Patriotismus gewählt; ein Dritter die der Religion, der Glaubensreinigkeit. Zu allerlei Zwecken hat schon mancher die Maske der Philosophie, wohl auch der Philanthropie und dergleichen mehr vorgesteckt. […]

      Der Mensch ist im Grunde ein wildes, entsetzliches Tier. Wir kennen es bloß im Zustand der Bändigung und Zähmung, welche Zivilisation heißt. Daher erschrecken uns die gelegentlichen Ausbrüche seiner Natur. Aber wo und wann einmal Schloss und Kette der gesetzlichen Ordnung abgefallen und Anarchie eintritt, da zeigt sich, was er ist. – Wer inzwischen auch ohne solche Gelegenheit sich darüber aufklären möchte, der kann die Überzeugung, dass der Mensch an Grausamkeit und Unerbittlichkeit keinem Tiger und keiner Hyäne nachsteht, aus hundert alten und neuen Berichten schöpfen. […]

      Gobineau (des races humaines12) hat den Menschen l’animal méchant par excellence13 genannt, welches die Leute übel nehmen, weil sie sich getroffen fühlen. Er hat aber recht. Denn der Mensch ist das einzige Tier, welches anderen Schmerz verursacht ohne weiteren Zweck als eben diesen. Die anderen Tiere tun es nie anders, als um ihren Hunger zu befriedigen, oder im Zorn des Kampfes. Wenn dem Tiger nachgesagt wird, er töte mehr, als er auffresse, so würgt er alles doch nur in der Absicht, es zu fressen, und es liegt bloß daran, dass, wie die französische Redensart es ausdrückt, ses yeux sont plus grands que son estomac14. Kein Tier jemals quält, bloß um zu quälen, aber dies tut der Mensch, und dies macht den teuflischen Charakter aus, der weit ärger ist als der bloß tierische. Von der Sache im Großen ist schon geredet, aber auch im Kleinen wird sie deutlich, wo denn jeder sie zu beobachten täglich Gelegenheit hat. Zum Beispiel wenn zwei junge Hunde miteinander spielen, so friedlich und lieblich anzusehen – und ein Kind von drei bis vier Jahren kommt dazu, so wird es sogleich mit seiner Peitsche oder seinem Stock heftig dareinschlagen, fast unausbleiblich, und dadurch zeigen, dass es schon jetzt l’animal méchant par excellence ist. Sogar auch die so häufige zwecklose Neckerei und der Schabernack entspringen aus dieser Quelle. Zum Beispiel hat man etwa über irgendeine Störung oder sonstige kleine Unannehmlichkeit sein Missbehagen geäußert, so wird es nicht an Leuten fehlen, die sie gerade deshalb zuwege bringen: l’animal méchant par excellence! Dies ist so gewiss, dass man sich hüten soll, sein Missfallen an kleinen Übelständen zu äußern, sogar auch umgekehrt sein Wohlgefallen an irgendeiner Kleinigkeit. Denn im letzteren Fall werden sie es machen wie jener Gefängniswärter, der, als er entdeckte, dass sein Gefangener das mühsame Kunststück vollbracht hatte, eine Spinne zahm zu machen, und an ihr seine Freude hatte, sie sogleich zertrat: l’animal méchant par excellence! Darum fürchten alle Tiere instinktmäßig den Anblick, ja die Spur des Menschen – des animal méchant par excellence. Der Instinkt trügt auch hier nicht: Denn allein der Mensch macht Jagd auf das Wild, welches ihm weder nützt noch schadet. […]

      Wirklich also liegt im Herzen eines jeden ein wildes Tier, das nur auf Gelegenheit wartet, um zu toben und zu rasen, indem es andern wehe tun und, wenn sie gar ihm den Weg versperren, sie vernichten möchte: Es ist eben das, woraus alle Kampf- und Kriegslust entspringt; und eben das, welches zu bändigen und einigermaßen in Schranken zu halten die Erkenntnis, sein beigegebener Wächter, stets vollauf zu tun hat. Immerhin mag man es das radikale Böse nennen, womit wenigstens denen, welchen ein Wort die Stelle einer Erklärung vertritt, gedient sein wird. Ich aber sage: Es ist der Wille zum Leben, der, durch das stete Leiden des Daseins mehr und mehr erbittert, seine eigene Qual durch das Verursachen der Fremden zu erleichtern sucht. Aber auf diesem Wege entwickelt er sich allmählich zur eigentlichen Bosheit und Grausamkeit. Auch kann man hierzu die Bemerkung machen, dass, wie – nach Kant – die Materie nur durch den Antagonismus der Expansions- und Kontraktionskraft besteht, so die menschliche Gesellschaft nur durch den des Hasses, oder Zorns, und der Furcht. Denn die Gehässigkeit unserer Natur würde vielleicht jeden einmal zum Mörder machen, wenn ihr nicht eine gehörige Dosis Furcht beigegeben wäre, um sie in Schranken zu halten; und wiederum diese allein würde ihn zum Spott und Spiel jedes Buben machen, wenn nicht in ihm der Zorn bereit läge und Wache hielte.

      Der schlechteste Zug in der menschlichen Natur bleibt aber die Schadenfreude, da sie der Grausamkeit eng verwandt ist, ja eigentlich von dieser sich nur wie Theorie und Praxis unterscheidet, überhaupt aber da eintritt, wo das Mitleid seine Stelle finden sollte, welches, als ihr Gegenteil, die wahre Quelle aller echten Gerechtigkeit und Menschenliebe ist. In einem andern Sinne dem Mitleid entgegengesetzt ist der Neid, sofern er nämlich durch den entgegengesetzten Anlass hervorgerufen wird: Sein Gegensatz zum Mitleid beruht also zunächst auf dem Anlass, und erst infolge hiervon zeigt er sich auch in der Empfindung selbst. Daher eben ist der Neid, wenngleich verwerflich, doch noch einer Entschuldigung fähig und überhaupt menschlich, während die Schadenfreude teuflisch und ihr Hohn das Gelächter der Hölle ist. Sie tritt, wie gesagt, gerade da ein, wo Mitleid eintreten sollte; der Neid hingegen doch nur da, wo kein Anlass zu diesem, vielmehr zum Gegenteil desselben vorhanden ist; und eben als dieses Gegenteil entsteht er in der menschlichen Brust, mithin so weit noch als eine menschliche Gesinnung: Ja, ich befürchte, dass keiner ganz frei davon befunden werden wird. Denn dass der Mensch beim Anblick fremden Genusses und Besitzes den eigenen Mangel bitterer fühle, ist natürlich, ja unvermeidlich; nur sollte dies nicht seinen Hass gegen den Beglückteren erregen. Gerade hierin aber besteht der eigentliche Neid. […]

      Wenn man nun aber, wie hier geschehen, die menschliche Schlechtigkeit ins Auge gefasst hat und sich darüber entsetzen möchte, so muss man alsbald den Blick auf den Jammer des menschlichen Daseins werfen und wieder ebenso, wenn man vor diesem erschrocken ist, auf jene: Da wird man finden, dass sie einander das Gleichgewicht halten, und wird der ewigen Gerechtigkeit inne werden, indem man merkt, dass die Welt selbst das Weltgericht ist, und zu begreifen anfängt, warum alles, was lebt, sein Dasein abbüßen muss, erst im Leben und dann im Sterben. So nämlich tritt das malum poenae15 mit dem malum culpae16 in Übereinstimmung. […]

      § 117 Man hat die Frage aufgeworfen, was zwei Menschen, die in der Wildnis, jeder ganz einsam, aufgewachsen wären und sich zum ersten Male begegneten, tun würden: Hobbes, Pufendorf, Rousseau haben sie entgegengesetzt beantwortet. Pufendorf glaubte, sie würden sich liebevoll entgegenkommen; Hobbes hingegen, feindlich; Rousseau, schweigend aneinander vorübergehen. Alle drei haben recht und unrecht: Gerade da würde sich die unermessliche Verschiedenheit angeborener moralischer Disposition der Individuen in so hellem Lichte zeigen, dass hier gleichsam der Maßstab und Gradmesser derselben wäre. Denn Menschen gibt es, in denen der Anblick des Menschen sogleich ein feindliches Gefühl aufregt, indem ihr Innerstes den Ausspruch tut: „Nicht-Ich!“ – Und andere gibt es, bei welchen jener Anblick sogleich freundliche Teilnahme erregt; ihr Inneres sagt: „Ich noch einmal!“

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