Kult-Krimis: 26 Romane & Detektivgeschichten. Friedrich Glauser
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Studer schwieg. Er wartete. Das Schweigen dauerte lange.
»Ihr werdet bemerkt haben, Herr Doktor, daß euer Name in dem Schriftstück nicht vorkommt…« sagte Studer endlich. »Ihr habt mich angefordert, um behördlich gedeckt zu sein. Ich habe versucht, meine Mission zu erfüllen…«
»Und Caplaun ist tot?« fragte Dr. Laduner. Studer blickte nicht auf, er hatte Angst vor dem Lächeln, das sicher um des Arztes Mund lag.
»Es war ein Unglücksfall…« sagte Studer verlegen.
»Sie sprachen doch von einem Mord?«
»Eigentlich beides… Aber es ist eine lange Geschichte. Und ich erzähle sie nicht gerne, weil ich eigentlich selber am Tode des Herbert Caplaun schuldig bin…«
»Wenn ich Sie recht verstehe, Studer, so haben Sie also durch Ihre Ungeschicklichkeit zwei Menschen getötet: den Pfleger Gilgen und den Herbert Caplaun…«
Studer schwieg. Er preßte die Lippen zusammen, sein Gesicht wurde langsam rot.
Die höhnische Stimme fuhr fort:
»Sie haben sich mit mir identifizieren wollen, Studer…«
»Identifizieren?«
Was war das wieder für ein Wort?
»Ja, Sie wollten an meine Stelle treten, den Seelenarzt spielen, in meine Haut schlüpfen… Verstehen Sie?«
Dr. Laduner war aufgestanden. Er nahm einen Gegenstand nach dem andern vom Tisch – nur das Banknotenbündel ließ er liegen –, trat zu einem Schrank in der Ecke, legte die Gegenstände hinein, schloß ab, steckte den Schlüssel in die Tasche seines Schlafrockes und blieb dann neben Studer stehen.
»Das erpreßte Geständnis«, sagte er, und seine Stimme war scharf, »ist sicher sehr brauchbar. Aber Sie haben gepfuscht, Studer, Sie haben mir ins Handwerk gepfuscht. Verstehen Sie?… Ich habe Sie bei mir aufgenommen, ich habe gehofft, Sie würden mir helfen, was haben Sie statt dessen getan? Auf eigene Faust gehandelt! Ohne mich um Rat zu fragen. Ich habe Sie noch gar nicht gefragt, wie Caplaun gestorben ist – das ist ja irrelevant… Das hat weiter keine Bedeutung, wenn Sie Mühe haben, Fremdworte zu verstehen…«
Studers mageres Gesicht wurde noch röter, er ballte die Fäuste, er wußte, wenn er nun aufblickte und des Arztes lächelndes Gesicht sehen würde – das Lächeln, das einer Maske glich –, dann würde er sich nicht zurückhalten können. Dreinschlagen!… Was bildete sich der Mann eigentlich ein? Man hatte ihn geschont, man hatte sein möglichstes getan, ihm einen Skandal zu ersparen – und das war der Dank dafür?
»Ich will Sie noch auf einige Dinge aufmerksam machen, Studer: Haben Sie mich wirklich für so dumm gehalten, daß ich nicht von Anfang wußte, was geschehen war? Verstehen Sie eigentlich nur Dinge, die man Ihnen mit klaren Worten auseinandersetzt? Wir haben uns doch in Wien kennengelernt! – Sie waren damals weniger schwerfällig… Ist das Alter schuld an Ihrem Mangel an Verständnis? Sie haben doch vom Nachtwärter, der die Runden macht, erfahren, daß ich damals Caplaun im Gang vor der Heizung getroffen habe, kurz nach zwei Uhr… Warum haben Sie mich nie darüber ausgefragt? Warum haben Sie mir verschwiegen, daß Sie den Sandsack gefunden hatten – und die Brieftasche? Warum haben Sie auf eigene Faust Untersuchungen geführt? Ich will es Ihnen sagen: Es war eine Kraftprobe, die Sie ablegen wollten, Sie wollten dem Herrn Psychiater beweisen, daß auch ein einfacher Fahnderwachtmeister psychologisch begabt sein kann… Aber mit Seelen muß man vorsichtig umgehen – Seelen sind zerbrechlich… Und von Pieterlen wissen Sie auch nichts? Also sogar kriminologisch haben Sie versagt? Sie sind ein Pfuscher, Wachtmeister Studer, weiter nichts…«
Studer sprang auf. Das war zu viel!
Er stand Dr. Laduner in Boxerstellung gegenüber und hatte nur den einen Wunsch: mit der Faust das Lächeln zu zerschlagen. Sein rechter Ellbogen fuhr zurück. Dr. Laduner hatte die Hände in den Taschen seines Schlafrockes vergraben, er rührte sich nicht. Ganz leise sagte er, und das Lächeln verschwand nicht von seinen Lippen:
»Wachtmeister Studer, es gibt ein gutes und beherzigenswertes chinesisches Sprichwort: ›Eine ärgerliche Faust vermag ein lächelndes Gesicht nicht zu treffen.‹ Denken Sie darüber nach, Wachtmeister…«
Studer setzte sich. Er war bleich.
Wirklich, dieser ganze Fall war genau wie ein Alpenflug. Nun war er zu Ende, und er war auf eine beschämende Art zu Ende gegangen.
Der Wachtmeister spürte eine so große Müdigkeit, daß er sich am liebsten vier Tage ins Bett gelegt hätte – was, vier Tage! – daß er am liebsten gar nicht mehr aufgestanden wäre…
Wie hatte Dr. Laduner gesagt? Eine ärgerliche Faust vermag ein lächelndes Gesicht nicht zu treffen…
Zwei Tote!
Studer preßte die Fäuste auf die Augen, er hätte gern das Bild verjagt, das ihn nicht losließ – Das Ufer des Flusses – ein Mann, der einen andern ins Wasser stößt… ›Ich hätte dazwischenspringen können!‹ dachte Studer. ›Warum hab' ich's nicht getan? Warum ist der Jutzeler nicht dazwischengesprungen? Hat eigentlich dieser Dr. Laduner uns alle verhext? Den kleinen Gilgen, der die Photographie mit der Widmung im Nachttischlischublädli aufbewahrt hat, den Schwertfeger, das Demonstrationsobjekt Pieterlen und den Angstneurotiker Caplaun? Soll ich dem Dr. Laduner sagen, warum der Herbert Caplaun den Direktor über die Eisenleiter hinuntergestoßen hat? Oder weiß er auch das, der Herr Seelenarzt? Ich bin ein Pfuscher! Gut! Es kann nicht jeder mit den Gefühlen der andern umgehen, wie dies ein Chemiker mit seinen Reagenzien tut. Soll ich dem Dr. Laduner das unter die Nase reiben? Nutzlos! Der Mann wird auch auf diese Vorhaltungen eine Antwort wissen, die mir den Mund verschließt… Es ist hoffnungslos…
»Wissen Sie, was Sie jetzt brauchen, Studer?« fragte Dr. Laduner. Der Wachtmeister blickte erstaunt auf. Der Arzt ging zur Türe: »Greti!« rief er, »bring unserem Wachtmeister einen Kirsch. Es ist ihm übel geworden…« Er kam zurück, ging zum Fenster und sagte: »Vielleicht kann man den Alkohol auch zu den psychotherapeutischen Mitteln zählen… Mein berühmter Kollege hat es wenigstens behauptet. Und ich möchte ihm nicht ganz unrecht geben… Trinken Sie, Studer, und dann erzählen Sie. Greti, du kannst auch zuhören…«
Frau Laduner setzte sich auf das Ruhebett. Sie faltete die Hände. Studer schenkte sich ein Glas Schnaps ein, leerte es, füllte es noch einmal, behielt die scharfe Flüssigkeit eine Zeitlang im Munde, schluckte sie, räusperte sich dann und begann.
Sieben Minuten
Der kleine Gilgen hat Selbstmord begangen…« sagte Studer, »aus Angst – aber ich konnte keine Erklärung für seine Angst finden. Man will einen Menschen verhaften, weil er Geld gestohlen hat, und er stürzt sich zum Fenster hinaus…
Gilgen hatte keine Ahnung, wie der Kassenschrank in der Verwaltung aussah. Er hatte zwei Bündel Hunderternoten in seinem Besitz. Er wußte nichts von dem dritten Bündel. Also hatte ein anderer den Diebstahl begangen. Gilgen schwieg. Doch er fürchtete sich vor einer Verhaftung. Warum hatte er Furcht? Weil der Richter ihn wohl gezwungen hätte, auszupacken. Logische Folgerung: Gilgen wollte jemanden decken… Wer war damals im Gang? Der Portier