Gesammelte Werke. Isolde Kurz
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An alle die Seelennot zurückdenkend, durch die ich gegangen bin, möchte mir zumute werden wie dem Reiter über den Bodensee. Aber der Goldschaum der Frühzeit, der damals alle Dinge überkleidete, ist ja ebenso gut dagewesen. So sei, bevor ich weitergehe, auch von dieser Stelle aus noch einmal ein Blick auf das Fest der Jugend im Elternhause geworfen, damit die gerechte Waage gleich stehe zwischen Freude und Leid.
Die Jugend gab in unserem Hause den Ton an, denn es war alles Jugend: die Kinder, deren junge Freunde, die kleine bewegliche Mutter obenan; der ernste Vater ging nur zuweilen gütig lächelnd durch den Raum. Bücher wurden gelebt, nicht gelesen, und mit glühenden Wangen umstritten wie Gegenwärtiges. Verse wurden gemacht, von den einen witzige, von den andern gefühlvolle, aber alles auf den Augenblick bezogen; der davon reich und vielfältig wurde. Ein besonderer Sport war das Rätselraten. Gelegentlich stellten die jungen Leute eine Art Treibjagen auf mich an, wer mich mit dem kniffligsten finge, denn ich stand im Ruf, sie alle im Handumdrehen zu lösen. Wieso mir das geriet, weiß ich nicht, vermutlich weil ich mehr Lust und Zeit für Allotria hatte als die männliche Jugend. Im Grunde war alles Allotria, was wir trieben, war Spiel und geistiger Wildwuchs, ohne eine Spur von Intellektualismus, aber die geistigen Kräfte wurden doch geschärft, und der Ernst stand im Hintergrund in Gestalt philosophischer, politischer, sozialer Fragen, die letzteren noch völlig embryonal, nur erst geahnt. Dass meine Ausbildung auf diesem Wege lückenhaft und dauernder Nachbesserung bedürftig bleiben musste, liegt auf der Hand. Dennoch war, was den Brüdern ordnungsmäßig in der Schule geboten wurde, in mancher Hinsicht arm dagegen. Unlängst fiel mir ein frühes Kollegheft Edgars in die Hände, worin er eine Vorlesung über Sappho nachgeschrieben hatte, die in ihrer gedrängten Kürze gut war. Das veranlasste mich, den Artikel Sappho im »Pauly« nachzulesen, und ich staunte nicht wenig, als ich besagtes Kolleg darin Wort für Wort wiederfand. Der Professor hatte sich ’s leicht gemacht und seinen Schülern jahraus jahrein, ohne nur den Satzbau zu ändern, ein Stück aus der »Realencyklopädie der Altertumswissenschaften« vorgelesen.
Wer damals unser Haus betrat, der atmete eine so von Jugend durchduftete, zugleich von allen geistigen Keimen geschwängerte, von Erdenschwere befreite Luft, dass manchem solches Fernsein vom Alltag lebenslang einen Glanzpunkt seiner Erinnerung bedeutete. Kleines mit Größtem vergleichend, muss ich an den Vers eines neulateinischen Dichters über das Haus der Mediceer denken: Orbis terrae instar quod domus una fuit. So fühlten wir uns unbewusst mit unserer Verflochtenheit und unseren Gegensätzlichkeiten als ein Abbild der Welt im Kleinen. Ich durfte mich als Mittelpunkt empfinden, an den sich alle wandten und auf den sich alles bezog, wenn ich auch noch kein eigenes Eckchen im Hause besaß, an dem ich meine Übersetzungen fördern konnte, sondern im größten Durcheinander arbeiten musste.
Ich genoss eine Freiheit, wie keine andere sie haben konnte oder sich auch nur gewünscht hätte. Ich konnte schlechthin tun und lassen, was ich wollte, und kannte nur inneres, kein äußeres Verbot. Aufs tiefste danke ich es meiner Mutter, dass sie mich trotz ihrer Ängstlichkeit nie an der Bewegung verhinderte; sie hatte die geheime Vorstellung, dass ich irgendwie gefeit sei. Wenn Edgar mich auf meinen Ritten begleitete, bebte sie nicht für die Tochter, sondern für den Sohn, für den sie seit der Geburt gebebt hatte, weil ihr immerdar eine Ahnung sagte, dass sie ihn werde einmal verlieren müssen. Mein Dabei sein war ihr eher beruhigend, als ob das Glück, das sie mir zuschrieb, übertragbar wäre. Welchen Lebensgewinn durch unverlierbare Eindrücke brachten mir diese Ritte in morgendlich dampfenden Wäldern, wo die Vögel eben erwacht waren, oder durch nächtliche, schlaftrunkene Schwarzwaldtäler, wo nichts hörbar war als der Hufschlag unserer Pferde. Ein langaufgeschossener Theologe, Freund Julius Hartmann, pflegte das Geschwisterpaar zu begleiten und erlebte mit uns heitere und bedenkliche Abenteuer. Gelegentlich flog aus einer Dorfgasse ein Stein nach mir, wodurch die aufgestörte ländliche Seele gegen das niegesehene Schauspiel einer Dame zu Pferd Verwahrung einlegte. Ein andermal – es war an einem Sonntagvormittag – empfanden die Herren angesichts eines großen Dorfwirtshauses plötzlichen Durst nach einem Bügeltrunk, und während dieser gereicht wurde, sammelte sich eine Kinderschar gaffend um mein Pferd, und von Gasse zu Gasse, wodurch ich geritten war, ging der Ruf: D’Keeniche! D’Keeniche kommt! D’Keeniche isch do! Ich spielte mit Anstand meine Rolle als Königin, rief die Dorfkinder heran, fragte, ob sie auch fleißig seien in der Schule, was sie lernten, und trug ihnen leutselig Grüße an ihre Eltern auf. Gewiss habe ich durch meine Herablassung an jenem Morgen viele ländliche Herzen auf lange Zeit glücklich gemacht; so leicht haben es die Großen der Erde, um sich her Freude zu verbreiten. Bloß eines fehlte bei diesen Gelegenheiten zu meinem vollen Glück: die Pferde waren kein edles Blut, mit dem man in persönliche Beziehung treten konnte, nur abgestumpfte Mietgäule, worauf jeden Tag ein anderer saß. Ich aber ritt so halb und halb ein Traumpferd, denn ein Jugendfreund meiner Mutter, ein Baron Rantzau, der Oberstallmeister des Königs war, hatte einmal gegen diese geäußert, dass es ihm leicht wäre, vom König das Geschenk eines Pferdes für mich zu erlangen, wenn ich es füttern könnte. Ach, ich konnte mit meinen kleinen literarischen Einnahmen kaum noch mich selber füttern, bloß meine Kleidung und andere Sonderausgaben bestreiten, aber gleichviel, ich besaß es nun doch innerlich. Ich wählte es mir schwarz, weil ich blond war, nannte es Luzifer, und es war das Pferd des Königs. – Anders war es dann, wenn