Island. Marie Kruger
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Die Identifikation mit dem Land, dem Isländersein und dem Isländischsein mag manchmal zwar skurrile Züge annehmen, führt aber nicht dazu, dass nicht mehr über den Tellerrand geschaut wird. Gerade in Krisenzeiten sind die Isländer bereit, flexibel zu reagieren und auch das aufzugeben, das ihnen das Liebste ist: Island. So verließen zum Beispiel zwischen 1968 und 1970 viele Isländer ihre Heimat, da der Hering von einem Jahr aufs andere ausblieb und Familien plötzlich kein Auskommen mehr hatten. Bei der Wahl ihres neuen, oft nur zeitweiligen Domizils schwanken sie wieder zwischen Amerika und Europa. Halldór Laxness’ Figur Steinar Steinsson, Protagonist des Romans Das wiedergefundene Paradies, verkörpert genau diese Seite des Isländischseins. Bei einem Kopenhagenaufenthalt lernt er einen Mormonenpriester kennen und folgt ihm nach Utah, um schließlich doch nach Island zurückzukehren.
1855 verließen tatsächlich einige Isländer die Insel in Richtung Utah, von einer Auswanderungswelle kann aber erst etwa 20 Jahre später die Rede sein, als eine kanadische Reederei beginnt, organisierte Fahrten gen Westen anzubieten und Menschen bzw. ganze Familien überall im Land zu rekrutieren. Die vorausgegangenen Jahrzehnte waren sehr schwierig gewesen, denn ein kalter Winter folgte dem nächsten, und ein heftiger Vulkanausbruch führte zu weiteren Missernten und Viehsterben. Trotzdem war die Bevölkerung stark angewachsen. Die Isländer entdeckten jedoch gerade erst zu dieser Zeit, dass der Fischfang nicht nur ein Zuverdienst im Winter oder etwas für arme Menschen ohne eigenes Land sein konnte, sondern sich durchaus zum Haupterwerbszweig eignete. Es brauchte noch ein paar Jahrzehnte, bevor sich die Schicht der Fischer entwickelte. Gleichzeitig war es dem Gesinde nicht gestattet, einfach einen eigenen Hausstand zu gründen. Es musste bestimmte Voraussetzungen erfüllen, um heiraten zu dürfen. Gerade diesen Menschen eröffnete sich mit der Fahrt nach Westen eine neue Perspektive, die ihnen teilweise von ihrer Gemeinde bezahlt wurde, die so Fürsorgeempfänger loswurde. Die letzte große Auswanderungswelle rollte 1905, weil sich die Bedingungen in der Zwischenzeit zu Hause enorm verbessert hatten. Zwischen 1871 und 1914 haben nachweislich 16408 Isländer ihr Glück jenseits des Atlantiks gesucht – in den USA, in Kanada und in Brasilien. Dies entspricht durchschnittlich 380 Menschen pro Jahr, wobei in Hochzeiten 2000 Menschen jährlich das Land verließen. Nur wenige kehrten wieder nach Island zurück.
Die isländische Auswanderungsbewegung hebt sich durch zwei Eigenarten von den anderen in Europa ab. Zum einen verließen ungewöhnlich viele Frauen Island, während es anderswo immer deutlich mehr Männer waren. Dies lag eben daran, dass ganze Familien auswanderten und weniger Alleinstehende. Zum anderen gingen die meisten Isländer nach Kanada, das damals nach dem Vorbild der USA begonnen hatte, Einwanderer gezielt mit dem Versprechen von Grundbesitz zu locken. Deshalb siedelten sich viele Isländer rund um den Winnipegsee an, wo ihnen bis 1900 Exklusivrechte eingeräumt wurden, und blieben auch, als der Anfang sich aufgrund der Bodenqualität als schwierig entpuppte. Die Region New Iceland gehört heute zur Provinz Manitoba und ist besonders für den von den »Isländern« gefangenen Fisch bekannt – so ein kanadischer Bekannter.
Bei einer meiner ersten Reisen in Island teilte ich mir – es war September – eine ganze Jugendherberge mitten im nordisländischen Nirgendwo mit zwei älteren Damen, die mir großzügig anboten, das Abendessen mit ihnen zu verspeisen. Sie waren am Tage im Museum Vesturfarasetrið (»Westfahrerzentrum«) in Hofsós gewesen, wo die Geschichte der isländischen Auswanderer liebevoll aufbereitet wurde. Das eigentliche Ziel ihrer Reise in die eigene Vergangenheit sollte der Hof ihres Urahns werden, der zu den sogenannten West-Isländern gehörte, die sich in Manitoba niedergelassen hatten. Im Museum hatte man ihnen mit Rat und Tat zur Seite gestanden und für sie neue Informationen ans Tageslicht befördert, sodass sie den ganzen Abend von der Freundlichkeit und der Sachkenntnis der dortigen Ahnenforscher schwärmten.
Was mir die Damen dann aus Manitoba berichteten, war für mich äußerst überraschend, denn auch wenn keine von beiden Isländisch sprach, bezeichneten sie sich als Isländerinnen. Beide waren Abonnenten von Lögberg-Heimskringla, einer zweimal im Monat erscheinenden Zeitung, die sich nach dem Ort der mittelalterlichen Gesetzsprechung (Lögberg) und einer wichtigen mittelalterlichen Chronik (Heimskringla) benannt hat und um die Vermittlung isländischer Neuigkeiten – auf Englisch – in ganz Nordamerika kümmert. Voller Enthusiasmus erzählten sie mir vom Icelandic Festival of Manitoba, das von der isländischen Regierung bezuschusst wird, von ihrer Mitarbeit im Organisationskomitee und von ihren alten Trachten, die sie liebevoll pflegen. In der »isländischen Hauptstadt Kanadas« Gimli wird das Festival jedes Jahr Anfang August mit einem Festumzug eingeleitet. Danach gibt es sportliche Wettkämpfe, Markt, einen Gedichtwettbewerb, Eierkuchen und Volkstänze. Außerdem kann man während des Festivals wohl in einem Wikingerdorf wohnen, wo »historisch korrekt gekleidete« Pseudowikinger den wikingischen Alltag nachleben, aber auch wikingische Kampftechniken vorführen. Von den lebhaften Schilderungen äußerst beeindruckt, fragte ich die Damen frei heraus, was denn die Wikinger auf dem Festival zu suchen hätten, schließlich seien ihre Vorfahren doch erst im 19. Jahrhundert nach Kanada gekommen. Die Antwort kam prompt: »Na, Isländer halt!« Hier werden Besiedlungsmythen munter gemischt. Dass es schon schwierig ist, die ersten Isländer selbst als Wikinger zu verorten, ist bereits erklärt worden. Nun werden jedoch sogar eindeutig isländische, neuzeitliche Siedler mit etwas in Verbindung gebracht, mit dem schon ihre Urahnen nichts oder kaum etwas zu tun hatten. In jedem Falle bringt es, glaubt man den Fotos auf der Website des Festivals, Jung und Alt einen Heidenspaß.
Auch heute wandern die Isländer aus, wenn sich zu Hause die Bedingungen verschlechtern. Mit der Krise 2008 verschwand die Vollbeschäftigung, und gerade die nordischen Länder lockten mit attraktiven Arbeitsbedingungen. Damals zogen 15 von 1000 Einwohnern ins Ausland. Allein 2009 verließen fast 5000 Isländer ihre Heimat. Und auch wenn sich die wirtschaftliche Lage seit 2011 stetig bessert, lebten 2019 doch gut 50000 Isländer im Ausland, was immerhin fast 14 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. Dabei orientieren sie sich zu kleineren Teilen über den großen Teich nach Kanada und die USA, nehmen aber vor allem Schweden, Norwegen, Deutschland und das Lieblingsauswanderungsland Dänemark ins Visier, wobei die Auswanderung dorthin ja traditionell hoch ist. Die Isländer sind deutlich mobiler als ihre nordischen Nachbarn. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Isländer im Laufe seines Lebens im Ausland lebt, ist doppelt so hoch wie bei den Dänen und sogar drei Mal höher als bei Schweden. Viele sehen diesen Schritt als zeitweilige Lösung und betrachten Island als ihre Heimat, in die sie – früher oder später – genau wie Laxness’ Steinar Steinsson zurückkehren möchten. Denn auch wenn Island ihnen zeitweise mal nicht so viel zu bieten habe, bleibe es trotzdem einfach best í heimi!
Die nördlichste Hauptstadt der Welt
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