Griechische Mythologie. Ludwig Preller
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Am allerkräftigsten aber hat in dieser Hinsicht gewiß die mythologische Dichtung selbst gewirkt, die wir uns in dieser Periode eben so productiv als im höchsten Grade beweglich und wandernd denken müssen, als eine ununterbrochene Fülle von Liedern und Sagen, welche aus localen Anlässen wie aus eben so vielen Quellen immer von neuem aufsprudelten, aber durch Gesang und Volkssage alsbald von Ort zu Ort getragen wurden, so daß sie immer ein Gemeingut der ganzen Nation blieben. Es lassen sich dabei mit großer Wahrscheinlichkeit folgende Klassen von Dichtungen und Sagen unterscheiden, deren verschiedene Wirkung sich auch in der Mythologie ziemlich deutlich darstellt: 1) Die hieratische Poesie und Mythenbildung der Hymnen und Legenden, welche am meisten an bestimmte örtliche Beziehungen geknüpft und eben deshalb gewöhnlich das Eigenthum der Localculte blieb, wie noch Pausanias solche Legenden sehr alterthümlichen Klanges in vielen Gegenden von Griechenland antraf. Indessen ist wenigstens der Hymnengesang solcher heiligen Stätten, wie sie vorhin beschrieben wurden, sehr bald auch in weiteren Kreisen wirksam geworden, zumal da auch er ein Eigenthum der epischen Kunstpoesie wurde, wie sie die Sänger von Ort zu Ort an den Festen der Götter zu üben pflegten. Als Beispiele einer solchen Ueberarbeitung können die sogenannten Hymnen Homers dienen, während wir leider eine derartige Sammlung gottesdienstlicher Gesänge, wie die indische Litteratur sie an den Vedas besitzt, uns kaum unter den Griechen selbst möglich denken können. 2) Das Volkslied in seiner lyrischen Gestalt, wie es bei allen volkstümlichen Anlässen des Lebens, in Lust und Schmerz oder bei der Arbeit gesungen wurde, meistens in schwermüthiger Weise und von gleichartigem Inhalt, wie sich davon ein Grundzug durch die ganze griechische Mythologie und Lebensanschauung hindurchzieht. Eine wie weite Verbreitung solche Weisen, die immer von einem bestimmten mythologischen Inhalte begleitet waren, schon in der frühesten Zeit fanden, beweist u. A. das Linoslied. 3) Das Volkslied und die Volkssage im engeren Sinne des Wortes d. h. das epische Volkslied, wie es vorzüglich in kriegerisch bewegten Zeiten entsteht und in der männlichen Gestalt des Kriegsliedes und der Heldensage unter den Edlen und Wehrhaften von Mund zu Mund geht. Eine solche poetische Bewegung werden wir uns in Griechenland besonders in den Zeiten zu denken haben, wo jene Kriege und Wanderungen, von denen die Rede gewesen, die ganze Nation lange in Athem hielten und die damals noch vorherrschenden Könige und Edlen ihrem Volke bei vielen kühnen Unternehmungen zu Lande und zur See vorangingen. Da tönte das Lied, wie es in allen ähnlichen Zeiten gesungen ist, von kühnen Helden und von schönen Frauen, von großen Thaten und gefährlichen Abenteuern, von Frauenhuld, Frauenraub und blutiger Rache, daher auch das griechische Epos von solchem Inhalte ganz erfüllt ist. Und die Aoeden trugen solche Lieder von Ort zu Ort, von einem Hofe der Anakten und von einem Feste zum andern, und es ward ihnen große Gunst und große Ehre, wodurch sich ihre Kunst immer mehr vervollkommnete, so daß sich zuletzt ein eigner Stand und eine eigne Kunstübung der Aoeden bildete, wie uns auch dieses alles in der Ilias und Odyssee und durch die an diese Gedichte sich anschließende Tradition in deutlichen und characteristischen Bildern vorgestellt wird. Als den allgemeinen Stoff aber, in welchem sich diese Lieder und Gesänge bewegten, pflegen sie selbst zu nennen die κλέα ἀνδρῶν d. h. die Sagen der Vorzeit, welche sich bald nach bestimmten Kreisen gliederten, nach dem des Herakles, des Theseus und Meleager, der Argonauten, des thebanischen Kriegs, endlich des neuesten und beliebtesten von dem trojanischen Kriege. Die alte Götterwelt und die alte Göttersage mit ihren einfachen Grundzügen der sinnbildlichen Naturdichtung und dem erhabenen Ernste ihres Liedes von der Weltbildung und den Weltkämpfen der Götter erscheint neben diesen kriegerischen Sagen schon fast wie eine die sich überlebt hat und im Begriffe ist sich ganz zu verweltlichen. Namentlich ist es von Homer oft genug hervorgehoben daß er von den Göttern zwar viel und mit großer Anmuth erzählt, aber selten mit religiösem Ernste, gewöhnlich mit einer naiven Schalkhaftigkeit, wie sie sich von selbst einstellen mußte sobald der Sinn für jene alte Naturdichtung verschwand, in welcher namentlich die Liebeshändel und die Kämpfe der Götter und sonst alle die paradoxen Bilder der Göttergeschichte, wenn sie sie bereits kannte, ohne Zweifel eine andere Bedeutung gehabt hatten.
4. Homer und Hesiod.
Wenn also Herodot behauptet daß Homer und Hesiod etwa vierhundert Jahre vor seiner eignen Generation den Griechen ihre ganze Götterlehre gedichtet hätten2 und daß es vor ihnen nur pelasgische und aegyptische Götternamen und wenige ganz unbestimmte Anschauungen und Symbole gegeben habe, so erhellt aus dem Vorhergehenden von selbst daß diese Behauptung wesentlich einzuschränken ist. Der Einfluß des Orients ist von Herodot jedenfalls übertrieben und hat überhaupt einer von jenen entlegneren Culturstaaten des Orients stattgefunden, so ist derselbe weit eher bei den Phöniciern und den ihnen theils verwandten theils von ihren Bildungselementen ergriffenen Völkern und Staaten Kleinasiens und Kretas zu suchen als in Aegypten. Und was Homer und Hesiod betrifft so hat ohne Zweifel zur Ausbildung und Verbreitung der polytheistischen Bilder und Formen das griechische Epos außerordentlich viel beigetragen. Aber unmöglich können diese beiden Dichter allein das bewirkt haben, da die ihnen zugeschriebenen Gedichte doch nur die ältesten Monumente der griechischen Litteratur waren, keineswegs die ältesten Gedichte schlechthin, so daß jene beiden überall nur für die älteste Quelle der Mythologie gelten können, gleichsam für die Depositäre der epischen Tradition ältester Zeit, keineswegs für die Urheber derselben. Aber selbst von dem Epos würde es zu viel gesagt sein, wenn wir ihm die Entstehung der ganzen Mythologie zuschreiben wollten. Viele alte Bilder und Symbole müssen längst vorhanden gewesen sein und die epische Dichtung als solche wird überhaupt auf die ältere Tradition der Hymnen, der Volkssagen, der Volkslieder gestützt weit mehr in dem Sinne förderlich gewesen sein, daß bestimmte Namen und Systeme der Götter, bestimmte Genealogieen, bestimmte Kreise der Heldensage vor allen übrigen Anerkennung erlangten, als daß sie alle diese religiösen und bildlichen Vorstellungen neu erfunden hätte. Von Homer und Hesiod ist überdies zu beachten daß sie zwei Collectivnamen sind, nicht allein für das was die Griechen für das Aelteste in ihrer epischen Litteratur hielten, sondern auch für zwei verschiedene Gattungen der epischen Poesie und der mythologischen Tradition, wie sich diese ohne Zweifel längere Zeit vor ihnen festgestellt hatten. Das Homerische Epos ist mehr das weltliche und ritterliche, wie es sich in den Kreisen der Aoeden und an den Höfen der Anakten ausgebildet hatte, das Hesiodische mehr religiöser und didaktischer Art, wie es sich in dem Musendienste am Helikon und an ähnlichen Stätten entwickelt hatte. Und auch die Form der epischen Tradition ist bei beiden Dichtern eine verschiedene, wie dieses gleichfalls in der Mythologie und für alle folgende mythologische Dichtung viele wichtige Folgen gehabt hat. Bei Homer finden wir die kunstvollere des epischen Volksliedes, wo die Sage sich nach gewissen Abschnitten des mythologischen Vorgangs abtheilt und gliedert, wodurch nicht allein die Einheit der Handlung, sondern auch die dramatische Lebendigkeit der Erzählung sehr gefördert wird, so daß seine Gedichte eine Schule aller besseren epischen und dramatischen Dichtung geworden sind. Bei Hesiod dagegen ist, wenigstens in den mythologischen Gedichten (Theogonie und Eoeen) die genealogische Verknüpfung der fortlaufende Faden an welchem sich das Ganze abspinnt, so daß wir in ihm das Vorbild aller gleichartigen mythologischen