G. K. Chesterton: Krimis, Aufsätze, Romane und mehr. Гилберт Кит Честертон
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Der rothaarige Detektiv, der sich als Gogol maskiert hatte, stand stumm auf und ging ganz nonchalant aus dem Zimmer. Jedoch der bestürzte Syme war imstande, sich zu vergegenwärtigen, daß die Unbekümmertheit erheuchelt war; denn da vernahm man schwach ein Straucheln außerhalb der Türe, das bezeigte, daß der Detektiv, der ging, nichts weniger als ging.
»Die Zeit fliegt nur so dahin«, sagte der Präsident dann auf die heiterste Weise, nachdem er einen Blick auf seine Taschenuhr geworfen, die wie jedes Ding an ihm, von dreifacher natürlicher Größe war. »Ich muß fort. Ich muß in eine Humanitarierversammlung.«
Da wandte sich der Sekretär gegen ihn – und seine Augenbrauen arbeiteten.
»Wärs nicht besser«, fragte er ein bißchen schneidend, »wir würden erst die Details unseres Projektes noch weiter verhandeln, nun der Spitzel fort ist?«
»Nein. Ich denke nein«, sagte der Präsident. Und das tat sich auf wie eine lokale Erderschütterung. »Lassen wir das wie es ist. Ueberlassen wir das Kollegen Samstag. Ich muß machen, daß ich fortkomme. Frühstück hier nächsten Sonntag.«
Aber diese letzte stürmische Szene hatten die fast wehrlosen Nerven des Sekretärs aufgepeitscht. Er war einer von denen, die im Verbrechen noch gewissenhaft sind. Und er sagte:
»Ich muß protestieren, Präsident. Das geht wider die Regel. Es ist eine fundamentale Bestimmung in unserer Gesellschaft, daß über alle Pläne in vollzähligem Rat abgestimmt werden muß. Selbstverständlich billige ich Ihre Vorsicht, wenn in dem vorliegenden Fall, wo ein Verräter – –« »Sekretär!« sagte der Präsident ernst, »wenn Sie Ihren Kopf nun nach Hause tragen und zu einem Kohl eindampfen möchten, möchts gut sein. Ich weiß es nicht genau. Aber es müßte gut sein.« Der Sekretär bäumte sich auf wie ein erzürntes Pferd.
»Dafür fehlt mir, glaub ich, jedes Verständnis«, griff er offen an.
»Das ist es ja, das ist es ja«, sagte der Präsident und nickte viele Male. »Es fehlt Ihnen oft genug am Richtigen. Es fehlt Ihnen an Verständnis. Warum, Sie tanzender Esel«, brüllte er und schnellte empor, »warum schrien Sie vorhin, es kann nicht sein, es kann nicht sein, daß Sie ein Spion hört? Hä?? Wie kommen Sie dazu, zu wissen, daß das nicht auch jetzt sein kann?
Und mit diesen Worten ging er hinaus, – und eine grenzenlose Verachtung durchschüttelte ihn. Die vier Verbliebenen gafften ihm nach, offenbar ohne einen Schimmer von dem, was er meinte. Syme allein, dem schwante freilich etwas – sosehr, daß er in Mark und Bein hinein erschauerte. Wenn die letzten Worte etwas meinen wollten, konnten sie nur meinen: »da ist etwas nicht unverdächtig. Und wenn ich ihn auch noch nicht öffentlich so wie Gogol brandmarken kann, so trau ich ihm doch nicht so wie den anderen …« Und dann standen die andern viere brummend auf und begaben sich irgendwohin – zum Lunch, denn es war schon nach zwölf. Als letzter von ihnen der Professor: mühsam; unter Qualen … Syme aber saß noch lange, nachdem sie gegangen, seine seltsame Situation durchdenkend. Dem Blitzschlag wäre er ja glücklich entgangen. Aber die Wolke – die drohte immer noch über ihm … Schließlich stand auch er auf und ging aus dem Hotel – auf Leicester Square hinaus. Der lichte kalte Tag war zunehmend kälter geworden. Und als er auf der Straße war, fielen zu seinem Erstaunen sogar ein paar Schneeflocken. Während er aber den Stockdegen und die übrige bewegliche Habe Gregorys noch bei sich trug – hatte er den Mantelkragen irgendwo abgelegt und dann liegen lassen, kann sein auf dem Dampfer, kann auch sein auf dem Balkon. Hoffend indes, daß der Schneeschauer nicht viel machen würde, eilte er mit ein paar Schritten bis zum Türeingang eines kleinen schmutzigen Friseurladens und stand da unter. Das Auslagefenster stand ganz leer – nur eine ekelhafte Wachsdame im Gesellschaftskleide war da.
Währenddem fiel der Schnee immer dichter. Und da Syme schon auf den ersten Blick erkannt hatte, daß diese wächserne Schöne ihm nichts abgewinnen könne – im Gegenteil – starrte er lieber auf die weiße, leere Straße hinaus. Und da mußte er sich bald sehr, sehr verwundern: denn vor dem Laden stand ganz still und starrte zum Auslagefenster herein – – ein Mann. Sein Zylinderhut so schneebeladen als wie der des lieben Weihnachtsmanns; und das weiße Flockentreiben ihm um die Schuh und Knöchel. Und es schien, als könnte ihn nichts abbringen von seiner Betrachtung dieses farblosen Wachses, das direkt toll war in seiner dreckigen Salontoilette. Ein menschlich Wesen bei solchem Wetter vor einem solchen Laden – wär an und für sich für Syme Grund genug zu höchlichster Verwunderung gewesen. Aber sofort schlug all die Verwunderung in jähes, ganz persönliches Entsetzen um. Denn der Mann, der also versunken stand, war kein anderer als der steinalte Paralytiker Professor de Worms. Das war doch schwerlich ein Platz für einen Mann von seinen Jahren und von seiner Senilität.
Syme war im Moment darauf gefaßt: daß dieser entmenschten Bruderschaft irgendwie Perversitäten eignen konnten. Aber dann wollte er doch wieder nicht glauben, daß just der Professor irgendwie ein unsittliches Verhältnis zu dieser besonderen wächsernen Lady wünschen konnte. Und wollte darum also nur annehmen: die Krankheit dieses Mannes (was für eine sie auch sein mochte) involvierte wohl etliche momentane Starrkrampf-oder Trancefälle. Was er übrigens ohne eine Spur von Teilnahme oder Mitleiden zu konstatieren geneigt war. Im geraden Gegenteil: er gratulierte sich geradezu selber, daß diese Schlaganfälle des Professors und seine Art, nur mühsam vorwärts zu humpeln und lahm voran zu walzen – es ihm leicht machen würden, jetzt zu entspringen und den Alten meilenweit hinter sich zu lassen. Denn Syme dürstete schließlich und endlich danach, aus dieser durch und durch vergifteten Atmosphäre herauszukommen – und wärs auch nur auf eine Stunde lang. Da konnte er seine Gedanken sammeln, seine Politik festsetzen und ein für allemal entscheiden, ob er dem Gregory Treue halten sollte oder nicht.
Er machte sich also durch das Schneegestöber heimlich davon. Zwei oder drei Straßen hinüber. Und dann zwei oder drei hinab. Und trat ein in ein kleines Soho-Lunchrestaurant. Genoß nachdenklich vier kleine feine Gerichte, trank eine halbe Flasche Rotwein und genehmigte schwarzen Kaffee und eine schwarze Zigarre (immerfort grübelnd) als Beschluß. Er hatte im oberen Raum des Restaurants Platz genommen, das nur so sang von Messern auf Porzellan und Geplauder von fremden Menschen. Und da fiel ihm ein, daß er in vergangenen Tagen geträumt hatte: all diese harmlosen und kindischen Unbekannten seien .. Anarchisten. Und ihn schauderte, da er des wahren Sachverhalts gedachte. Aber selbst dieser Schauder trug nur vermehrend bei zu all seiner schamhaften Wonne des Freiseins, des Entronnenseins. Der Wein, das gesunde Essen, das Anheimelnde des Raums, die Gesichter all dieser sich natürlich gebenden, drauflos schwätzenden Menschen – es war ihm schier als war der Ring der sieben Tage ein böser Traum gewesen. Und obgleich er wußte: es war dennoch Wirklichkeit gewesen – wußte er wenigstens auch: er war nun eine Strecke weit von alldem weg. Hohe Häuser und bevölkerte Straßen lagen zwischen ihm und dem letzten Anblick der schändlichen Sieben. Und frei war er im freien London. Und Wein trank er unter den Freien … Viel, viel leichter kams ihn jetzund an, seinen Hut und seinen Stock zu nehmen und die Treppe da hinabzusteigen in die Parterreräumlichkeiten …
Wie er zu ebener Erde kam, blieb er starr und wie angewurzelt auf einem Fleck stehen. An einem kleinen Tisch saß am blanken Fenster und gegen das Schneelicht der Straße der alte anarchistische Professor bei einem Glas Milch. Mit seinem wie über den Schädel hochgezogenen leichenfarbenen Gesicht und überhängenden Augenlidern. Einen Augenblick lang stand Syme so krampfhaft steif als wie der Stock, auf den er sich stützte. Dann, mit einer Geste blinder Eile, stürzte er am Professor vorüber – riß die Tür auf – warf sie wild hinter sich zu – und stand heraußen im Schnee.
»Ist der steinalte Leichnam fähig, mir zu folgen?« fragte er bei sich selber und biß an seinem gelben Bart. »Ich hielt mich zu lang da drinnen auf – so lang – daß sogar derart langsame Beine mich aufholen konnten. Ein Angenehmes ist da: in etwas flinkem Tempo laß ich den Kerl hinter mir zurück – so weit wie Timbuktu. Oder bin ich halbverrückt? Verfolgte der mich denn wirklich?