Gesammelte Werke. Aristoteles
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Erstes Kapitel189.
Hiernach haben wir einen anderen Ausgangspunkt zu nehmen und zu sagen, daß es drei Arten dessen gibt, was man auf dem sittlichen Gebiete meiden muß: Schlechtigkeit, Unenthaltsamkeit und tierische Rohheit190. Das Gegenteil der beiden ersten ist klar: das eine nennen wir Tugend, das andere Enthaltsamkeit; das Gegenteil der tierischen Rohheit würde am passendsten eine übermenschliche, gewissermaßen heroische und göttliche Tugend heißen können, wie schon Homer191 den Priamus von Hektor wegen seiner hohen Vortrefflichkeit sagen läßt:
»– schien er doch nimmer
Wie einem sterblichen Mann, nein, wie einem Gotte entsprossen.«
Wenn daher, wie man sagt, aus Menschen durch ein Übermaß der Tugend Götter werden, so wäre offenbar der der tierischen Rohheit entgegengesetzte Habitus gleichsam von solcher Art. Denn wie dem Tiere weder Schlechtigkeit noch Tugend zukommt, so auch Gott nicht, sondern die göttliche Vollkommenheit ist etwas Ehrwürdigeres als Tugend, die tierische Bosheit aber ist eine andere Art der Schlechtigkeit. Wie aber ein göttlicher Mann – ein Ausdruck, den die Lacedämonier gebrauchen, wenn sie jemanden sehr bewundern; ein seios aner sagen sie – selten vorkommt, so ist auch ein tierisch verwilderter Mensch eine seltene Erscheinung. Am häufigsten noch kommen solche bestialische Naturen unter den Barbaren vor; einzelne Individuen werden auch infolge von Krankheiten und Verstümmelungen soweit gebracht. Aber auch Menschen von ganz besonderer Lasterhaftigkeit bezeichnen wir mit diesem Schmähwort. Indessen werden wir dieser Gemütsbeschaffenheit noch weiter unten kurz gedenken, die Schlechtigkeit dagegen ist schon früher zur Sprache gekommen. Jetzt wollen wir von der Unenthaltsamkeit, Weichlichkeit und Üppigkeit, sowie von der Enthaltsamkeit und Abgehärtetheit handeln. Jede dieser beiden Klassen von Eigenschaften ist nämlich weder als ein und dasselbe mit der Tugend und dem (1145b) Laster192, noch als von ihnen der Gattung nach verschieden zu denken.
Auch hier müssen wir wie sonst die Ansichten, die einen Schein haben, hersetzen und zuerst die Zweifel über sie vortragen, um dann entweder wo möglich alles, was bezüglich der gedachten Affekte annehmbar erscheint, nachzuweisen, oder doch das Meiste und Wichtigste davon. Denn wenn die Schwierigkeiten gelöst sind und das Annehmbare übrig bleibt, hat die Untersuchung das Ihrige getan.
Zweites Kapitel.
Die Enthaltsamkeit also wie die Abgehärtetheit scheint zu den trefflichen und lobenswerten Dingen, die Unenthaltsamkeit und Weichlichkeit dagegen zu den schlechten und tadelnswerten zu gehören. Ebenso scheint Enthaltsamkeit soviel als Beharren bei dem einmal gefällten Urteil der Vernunft und Unenthaltsamkeit soviel als Abfall von demselben zu sein. Endlich weiß der Unenthaltsame, daß das, was er tut, verkehrt ist, und tut es aus Leidenschaft doch; der Enthaltsame aber weiß, daß seine Begierden böse sind, und gibt ihnen aus Vernunft nicht nach.
Auch sagt man, der Mäßige sei enthaltsam und starkmütig; umgekehrt aber meint man teils, jeder, der die beiden letzten Eigenschaften habe, sei mäßig, teils bestreitet man es. Ebenso gilt den einen der Zuchtlose unterschiedslos für unenthaltsam und der Unenthaltsame für zuchtlos, während die anderen zwischen beiden einen Unterschied machen. – Von dem Klugen aber bestreitet man bald, daß er unenthaltsam sein könne, bald behauptet man, daß Einige zwar klug und geschickt, aber doch unenthaltsam sind. Endlich spricht man von Unenthaltsamen nach seiten des Zornes, der Ehre und des Gewinnes. Dies also sind die gangbaren Ansichten.
Drittes Kapitel.
Man könnte es aber bedenklich finden, daß einer trotz richtiger Ansichten sollte unenthaltsam sein können. Und daher behaupten Einige, bei Einem, der ein wahres Wissen in einer Sache habe, sei dieses unmöglich. So meinte Sokrates, es sei entsetzlich, wenn Jemanden wirkliches Wissen inne wohnte, und doch etwas anderes stärker wäre und ihn wie einen Sklaven hin- und herzöge. Sokrates nämlich bekämpfte überhaupt den Begriff, wie wenn es Unmäßigkeit gar nicht gäbe. Niemand sollte ihm zufolge wissentlich gegen das Beste handeln, sondern immer nur aus Unwissenheit. Allein diese Vorstellung ist mit den klaren Tatsachen entzweit, und man muß nur sein Augenmerk auf den Affekt, die Leidenschaft, richten und wenn wirklich unwissentlich gefehlt wird, die Frage stellen, in welcher Art die Unwissenheit entsteht. Liegt es doch auf der Hand, daß der Unenthaltsame erst dann meint, das Verbotene tun zu sollen, wenn die Leidenschaft ihn übermannt193.
Einige pflichten nun dem sokratischen Standpunkt in einer Hinsicht bei, in anderer nicht. Sie geben zu, daß nichts stärker sei als die Wissenschaft, daß aber niemand gegen das nach seiner Meinung Bessere handele, geben sie nicht zu, und deshalb behaupten sie, wenn der Unenthaltsame von seinen Lüsten übermannt werde, so habe er keine Wissenschaft, sondern nur eine Meinung. – Aber, sollte uns bedünken, wenn es sich um Meinen, nicht um Wissen handelt, und die der Lust ungünstige Annahme nicht auf starken, sondern auf schwachen Füßen steht und (1146a) dem Zweifel nahe kommt, so verdient es Nachsicht, wenn man einer solchen Meinung bei starken Begierden nicht treu bleibt. Nun aber gebührt der Schlechtigkeit wie allem, was sonst Tadel verdient, keine Nachsicht.
So wäre es also die Klugheit, die hier Einspruch erhöbe; denn sie ist im Besitze der sichersten und festesten Meinung. Aber das ist ungereimt; denn da würde einer klug und unenthaltsam zugleich sein; und doch würde niemand es für des klugen Mannes Art ausgeben, freiwillig das schlechteste zu tun. Zudem ist vorhin gezeigt worden, daß der Kluge sich im Handeln zeigt; denn er ist ein Mann, der es mit dem Letzten, dem Einzelnen, zu tun hat und außerdem die anderen Tugenden, die sittlichen, besitzt.
Ferner, wenn man darum enthaltsam sein soll, weil man starke und schlechte Begierden hat194, so wird der Mäßige nicht enthaltsam und der Enthaltsame nicht mäßig sein. Denn es ist weder des mäßigen Mannes Art, heftige Begierden zu haben noch schlechte. Und doch müßte dies so sein. Denn wenn die Begierden gut sind, so ist der Habitus, der uns abhält, ihnen Folge zu geben, schlecht, so daß also nicht jede Enthaltsamkeit gut wäre; wenn sie aber schwach und nicht schlecht sind, so ist es kein Ruhm, sie zu überwinden, und wenn sie schlecht und schwach sind, so ist es nichts großes, ihnen zu widerstehen.
Ferner, wenn die Enthaltsamkeit macht, daß man bei jeder Meinung beharrt, so ist sie schlecht, wenn sie einen z. B. auch bei einer falschen Meinung beharren läßt; und wenn umgekehrt die Unenthaltsamkeit macht, daß man bei keiner Meinung beharrt, so muß es eine gute Unenthaltsamkeit geben, wie die des Neoptolemus im Philoktet des Sophokles195 eine war. Denn er verdiente Lob, weil er aus Abscheu vor der Lüge nicht bei dem blieb, wozu er von Odysseus überredet werden war. Auch muß der sophistische Trugschluß für den, der den gedachten Standpunkt vertritt, eine Schwierigkeit