Rache@. Antje Szillat
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Ben blieb widerwillig stehen. Schickte insgeheim ein Stoßgebet Richtung Himmel, dass sie ihn jetzt endlich in Ruhe ließe. Diese offensichtliche Fürsorge machte das Ganze nur noch schlimmer und vor allen Dingen peinlicher für ihn.
„Lass dich von diesen Idioten nicht unterkriegen.“ Sie lächelte ihm aufmunternd zu, bevor sie sich einem anderen Schüler zuwandte.
„Und, was darf ich dir Leckeres geben?“, hörte Ben sie schon im Weggehen sagen.
In der nächsten Stunde stand Mathe bei Herrn Seidel an. Ben saß bereits an seinem Tisch. Der Platz neben ihm war leer. Marcel war heute nicht in der Schule erschienen. Ben hatte sich deshalb schon in der ersten Stunde Sorgen gemacht. Gestern war es Marcel noch gut gegangen. Keine Anzeichen einer plötzlichen Krankheit. Das konnte nur bedeuten, dass es mal wieder Probleme mit seiner Mutter gegeben hatte.
Marcels Vater war vor über einem Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Seitdem litt seine Mutter unter starker Niedergeschlagenheit. Sie hatte völlig den Boden unter den Füßen verloren.
„In letzter Zeit verfällt sie immer mehr in Depressionen. Wenn sie sich in diesem Zustand befindet, kann ich sie nicht alleine lassen. Sonst tut sie sich noch was an. Also bleibe ich zu Hause, tröste sie und höre mir ihr Gejammer an“, hatte Marcel ihm erzählt.
So wird es wohl auch heute wieder gewesen sein, vermutete Ben.
Verdammter Mist! Wenn Marcel da gewesen wäre, dann hätte es garantiert diesen blöden Vorfall in der Cafeteria nicht gegeben. Marcel hätte ihn gewarnt. Ihm einen vielsagenden Blick zugeworfen. Dann wäre ihm Johannes’ unter dem Tisch vorschnellender Fuß aufgefallen. Er wäre ausgewichen und nicht ins Stolpern geraten. Hätte nicht vergeblich versucht, das Gleichgewicht zu halten, während er krampfhaft den Teller mit den Pommes umklammerte, bevor er der Länge nach zu Boden fiel. Und Susanna hätte ihn nicht mit diesem mitleidigen Blick bedacht. Das wäre alles nicht passiert, wenn Marcel heute in die Penne gekommen wäre.
Herr Seidel riss ihn unsanft aus seinen trüben Was-wärewenn-Gedanken. „Ben, was ist mit deiner Schularbeit? Hättest du wohl die Güte, sie mir zu zeigen? Oder hast du sie nicht gemacht?“, zischte er ihn an.
Ben zuckte zusammen. Herrn Seidels Stimme klang sowieso immer scharf. Aber wenn er das Gefühl hatte, einer seiner Schüler war nicht bei der Sache, wechselte er locker auf rasierklingenscharf.
Ben kramte hektisch das Matheheft aus seiner Schultasche hervor. Mit nervösen Fingern schlug er die entsprechende Seite auf, reichte es dem Lehrer und sagte gedämpft: „Hier sind meine Hausaufgaben.“
Herr Seidel überflog stirnrunzelnd die Aufgaben. Dann gab er Ben das Heft zurück.
„In Ordnung“, murmelte er schon im Weggehen.
Ben atmete erleichtert auf. Er riskierte einen schnellen Blick zur Seite. Direkt in Susannas aufmunternd lächelndes Gesicht. Für einen kurzen Moment überlegte er, ihr Lächeln zu erwidern, doch dann verließ ihn abermals der Mut und er wandte sich rasch ab.
Den Rest der Stunde war Ben nur körperlich anwesend. Seine Gedanken waren ganz woanders. Sie kreisten um den Tag, an dem Marcel ihm das erste Mal aus der Patsche geholfen hatte.
Der Vorfall lag schon eine ganze Weile zurück. Aber Ben hatte die Szene noch genau vor Augen.
An der Ecke neben dem Eiscafé war er Johannes, Atze und Colin direkt in die Arme – oder vielmehr in die Reifen – gelaufen. Sie fuhren ihm mit ihren Fahrrädern so vor die Füße, dass er sich nur durch einen schnellen Sprung zur Seite retten konnte.
„Na, du Vollidiot! Haste von deiner Mami ‘nen Euro für ‘ne Kugel Eis bekommen?“, ätzte Johannes ihn an.
„Lasst mich gefälligst in Ruhe“, sagte Ben so bestimmt wie möglich.
„Hey, sei mal nicht so unfreundlich“, antwortete Colin und grinste dabei hämisch. Sie waren zu dritt. Wesentlich größer und stärker.
Ben musste an die Worte seiner Mutter denken. Sie hatte sie ausgesprochen, als er und seine Familie hierher gezogen waren. „Eine idyllische Kleinstadt. Hier ist das Leben noch in Ordnung und die Menschen sind nett und höflich.“
Echt super nett! Und so freundlich ...
„Hey, Schwachkopf, wir reden mit dir“, legte Johannes noch mal nach und stieß unsanft gegen Bens Oberarm.
Der versuchte cool zu bleiben. Dennoch hörte sich seine Stimme zittrig an, als er fragte: „Was wollt ihr von mir?“
„Alter“, johlte Atze, „dem geht der Arsch sauber auf Grundeis. Was fürn jämmerliches Weichei.“ Er tat so, als ob er jeden Moment in Tränen ausbrechen wollte. Sein lächerlicher Auftritt war glatt bühnenreif. Die anderen beiden quittierten das mit höhnischem Gelächter.
Ben wollte weggehen. Sich umdrehen. Sie stehen lassen und sich in das Eiscafé retten. Da würden sie ihn garantiert in Ruhe lassen. Aber so weit kam er nicht. Johannes rammte ihm mit voller Wucht sein Vorderrad in die linke Wade, sodass Ben stöhnend in die Knie ging.
Er kniete noch immer auf dem Boden, als zwei ältere Damen vorbeigingen. Eine wollte stehen bleiben und etwas sagen, doch die andere zog sie am Ärmel weiter und zischte ihr leise zu: „Misch dich da nicht ein!“ Dann waren sie auch schon um die Ecke verschwunden.
Ben wollte sich hochrappeln. Johannes’ Fuß auf seinem Rücken hinderte ihn daran.
„Da unten bist du schon richtig. Dreck zu Dreck“, sagte er und verstärkte noch den Druck seines Fußes.
Ben dachte an den Fünf-Euro-Schein in seiner Hosentasche. Vielleicht sollte er ihnen das Geld anbieten. Aber er bezweifelte, dass sie sich damit zufrieden geben würden.
Als ob Johannes seine Gedanken erraten hätte, forderte er tatsächlich etwas von Ben. „Zieh deine Schuhe aus und gib sie mir gefälligst“, schnauzte er und nahm seinen Fuß von Bens Rücken. „Und zwar etwas zügig, Arschloch! Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“
Ben war mit einem Satz auf den Beinen und drehte sich zu Johannes um. Seine beiden Freunde standen einen Schritt hinter ihm.
Ben nahm seinen ganzen Mut zusammen und schleuderte ihm ein lautes „Nein!“ entgegen.
Johannes lehnte sein Rad an die Hauswand und kam tänzelnd auf ihn zu, die Fäuste rhythmisch vor seinem Oberkörper bewegend.
„Jetzt bist du fällig, du kleine Drecksau.“
Ben zog den Kopf ein, versuchte mit den Armen sein Gesicht zu schützen. Er kniff seine Augen fest zusammen und erwartete den Schlag. Aber der kam nicht. Dafür hörte er Marcels Stimme rufen: „Verpisst euch oder es setzt was!“
Ben öffnete vorsichtig die Augen und sah gerade noch, wie Johannes herumfuhr.
„Verpiss dich doch selber, du Arsch“, sagte Johannes, während sich seine eben noch geballten Fäuste langsam wieder öffneten.
„Halt dein Maul“, zischte Marcel ihm zu. Sein Tonfall klang so kalt, dass Ben eine Gänsehaut bekam.
Er schnipste mit Daumen und Zeigefinger, sah kurz zu Ben und sagte: