Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

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Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский

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aufzusuchen, um wenigstens mit seiner Hilfe … denn wir waren ja allein, ganz allein«, jammerte sie kläglich, verstummte aber plötzlich ganz, weil ihr einfiel, daß es noch recht gefährlich sei, über Pjotr Petrowitsch zu sprechen, obwohl sie »alle wieder vollkommen glücklich« waren.

      »Ja, ja, das war alles gewiß sehr verdrießlich …«, murmelte Raskolnikow als Antwort, aber mit so zerstreuter und unaufmerksamer Miene, daß Dunja ihn ganz verwundert ansah.

      »Was wollte ich denn noch sagen«, fuhr er, mühsam seine Gedanken sammelnd, fort. »Ja: seid versichert, Mama und Dunja, daß ich vorhatte, euch heute meinerseits zuerst zu besuchen und euch nicht etwa hier erwarten wollte.«

      »Aber was redest du nur, Rodja!« rief Pulcheria Alexandrowna, gleichfalls höchst erstaunt.

      ›Was hat er denn?‹ dachte Dunja. ›Er spricht ja mit uns so förmlich und so pflichtgemäß! Er versöhnt sich und bittet um Verzeihung, ungefähr in der Art, wie ein Beamter eine amtliche Verrichtung vornimmt oder ein Schüler seine Lektion aufsagt.‹

      »Ich wollte gleich, sowie ich aufgewacht war, zu euch hingehen; aber ich konnte nicht wegen meiner Kleider; ich hatte gestern vergessen, ihr … Nastasja … zu sagen, sie möchte das Blut aus den Kleidern auswaschen … Ich bin eben erst mit dem Anziehen fertig geworden.«

      »Blut? Was für Blut?« fragte Pulcheria Alexandrowna erschrocken.

      »Es ist nichts Schlimmes, … beunruhigen Sie sich nicht. Das Blut war daher gekommen: als ich gestern im Fieber umherirrte, kam ich dazu, wie ein Mensch überfahren wurde, ein Beamter …«

      »Im Fieber? Aber du erinnerst dich doch an alles?« unterbrach ihn Rasumichin.

      »Das ist richtig«, antwortete Raskolnikow überlegend, »ich erinnere mich an alles, sogar bis auf die geringsten Kleinigkeiten; aber merkwürdig: warum ich dies oder das getan habe und hierhin oder dahin gegangen bin und dies oder das gesprochen habe, davon kann ich mir keine Rechenschaft ablegen.«

      »Das ist eine sehr bekannte Erscheinung«, fiel Sossimow ein. »Die Ausführung einer Handlung ist manchmal meisterhaft, außerordentlich schlau; aber das treibende Motiv, der Beweggrund zu dem ganzen Vorgehen, bleibt unklar und hängt mit allerlei krankhaften Empfindungen zusammen. Das Ganze hat mit einem Traum Ähnlichkeit.«

      ›Das ist am Ende ganz gut, daß er mich beinahe für irrsinnig hält‹, dachte Raskolnikow.

      »Aber das kommt doch wohl manchmal auch bei Gesunden vor?« bemerkte Dunja und sah Sossimow beunruhigt an.

      »Eine sehr richtige Bemerkung«, antwortete dieser. »In dieser Hinsicht sind wir tatsächlich alle, und zwar sehr häufig, fast wie Verrückte, nur mit dem kleinen Unterschiede, daß die ›Kranken‹ ein bißchen verrückter sind als wir; man muß da eben auf die Grenzlinie achten. Vollständig normale Menschen aber gibt es so gut wie gar nicht, das ist richtig; unter Zehntausenden, vielleicht sogar erst unter vielen Hundertausenden, mag man einen antreffen …«

      Bei dem Worte »verrückt«, das Sossimow sich unvorsichtigerweise hatte entschlüpfen lassen, da er bei seinem Lieblingsthema in Redeeifer geraten war, machten alle Anwesenden finstere Gesichter. Raskolnikow saß in Gedanken versunken und mit einem eigentümlichen Lächeln auf den blassen Lippen da, als ob er auf nichts achtete. Er verharrte in seinen Überlegungen.

      »Nun, wie war das also mit dem Überfahrenen? Ich habe dich unterbrochen!« rief Rasumichin schnell.

      »Was?« fragte der, als ob er aus dem Schlafe erwachte. »Ja, … nun, da habe ich mich blutig gemacht, als ich dabei behilflich war, ihn in seine Wohnung zu tragen. Und dabei fällt mir ein, Mama: ich habe gestern einen unverzeihlichen Streich begangen; ich hatte wirklich nicht meinen Verstand. Das ganze Geld, das Sie mir geschickt hatten, habe ich gestern weggegeben … an seine Frau … zur Beerdigung. Sie ist jetzt Witwe, schwindsüchtig, ein bedauernswertes Weib, … drei kleine, hungrige Waisen sind da, … im Hause kein Geld, keine Sachen, … eine Tochter ist noch da … Vielleicht hätten Sie selbst das Geld hingegeben, wenn Sie das alles gesehen hätten … Ich gestehe übrigens ein, daß ich ganz und gar kein Recht dazu hatte, so zu handeln, besonders da ich wußte, auf welche Weise Sie dieses Geld beschafft hatten. Um zu helfen, muß man zuallererst ein Recht dazu haben; sonst mag man sagen: Crevez, chiens, si vous n’êtes pas contents!« Er lachte auf. »Hab ich recht, Dunja?«

      »Nein, du hast nicht recht«, antwortete Dunja fest und bestimmt.

      »Pah! Du hast eben auch gerade jetzt solche Absichten, jemandem behilflich zu sein!« murmelte er, blickte sie dabei fast mit einem Gefühl des Hasses an und lächelte spöttisch. »Das hätte ich in Betracht ziehen sollen! Na, nur zu! Es ist ja auch ganz löblich; und für dich eine Verbesserung, … und wenn du an eine bestimmte Grenze gelangst und sie nicht überschreitest, so wirst du unglücklich sein, und wenn du sie überschreitest, vielleicht noch unglücklicher … Aber das ist ja alles Unsinn!« fügte er gereizt hinzu; er ärgerte sich darüber, daß er sich zu solchen Äußerungen hatte hinreißen lassen. »Ich wollte nur sagen, daß ich Sie, liebe Mama, um Verzeihung bitte«, schloß er scharf und kurz.

      »Laß doch gut sein, Rodja, ich bin überzeugt, daß alles, was du tust, gut ist!« sagte die Mutter erfreut.

      »Davon sollten Sie nicht so überzeugt sein«, antwortete er und verzog den Mund zu einem Lächeln.

      Es folgte allgemeines Schweigen. Es lag etwas Gezwungenes in diesem ganzen Gespräche und in dem Schweigen und in der Versöhnung und in der Verzeihung, und alle empfanden das.

      ›Gerade als ob sie sich vor mir fürchteten‹, dachte Raskolnikow bei sich und warf der Mutter und der Schwester einen mißtrauischen Blick zu. Pulcheria Alexandrowna wurde in der Tat, je länger sie schwieg, um so ängstlicher.

      ›Und ich liebte sie beide doch so sehr, als sie fern von mir waren‹, mußte er plötzlich denken.

      »Weißt du, Rodja, Marfa Petrowna ist gestorben!« brach Pulcheria Alexandrowna das Schweigen.

      »Was für eine Marfa Petrowna?«

      »Ach, mein Gott, Marfa Petrowna Swidrigailowa! Ich habe dir doch noch so viel über sie geschrieben.«

      »Ah, ja, ich erinnere mich … Also die ist gestorben? Wirklich?« fuhr er plötzlich auf, wie wenn er eben aufwachte. »Ist sie wirklich gestorben? Woran denn?«

      »Denk nur mal, ganz urplötzlich!« begann Pulcheria Alexandrowna eilfertig, ermutigt durch das Interesse, das er bekundete. »Und gerade zu der Zeit, als ich dir damals den Brief schickte, an demselben Tage! Denk nur, dieser schreckliche Mensch scheint sogar an ihrem Tode schuld zu sein. Er soll sie so furchtbar geschlagen haben!«

      »Standen sie denn so miteinander?« fragte er, sich an die Schwester wendend.

      »Nein, ganz im Gegenteil. Er benahm sich ihr gegenüber immer sehr rücksichtsvoll, sogar höflich. Bei vielen Gelegenheiten bewies er sogar allzu große Nachsicht mit ihrem Charakter, ganze sieben Jahre lang … Nun mochte er auf einmal die Geduld verloren haben.«

      »Dann ist er also gar nicht so schrecklich, wenn er es sieben Jahre lang ertragen hat? Du scheinst ihn in Schutz zu nehmen, Dunja?«

      »Nein, nein, er ist ein schrecklicher Mensch! Ich kann mir überhaupt gar nichts Schrecklicheres vorstellen«, antwortete Dunja beinahe mit einem Schauder, zog die Augenbrauen zusammen und gab sich ihren Gedanken hin.

      »Das war bei ihnen am Vormittag vorgefallen«, fuhr Pulcheria Alexandrowna eifrig fort. »Darauf gab sie sofort Befehl, die Pferde anzuspannen,

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