Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
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Alles das fuhr ihm wie ein Blitz durch den Kopf.
Porfirij Petrowitsch kam in einem Augenblick wieder zurück. Er schien auf einmal ganz vergnügt geworden zu sein.
»Den gestrigen Abend bei dir spüre ich noch im Kopfe, Bruder, … das hat mich völlig kaputt gemacht!« sagte er in ganz anderm Tone als vorher zu Rasumichin.
»Nun, war es interessant? Ich verließ euch ja gestern gerade bei dem interessantesten Punkte. Wer hat denn gesiegt?« fragte dieser.
»Selbstverständlich niemand. Wir gerieten auf die uralten Streitfragen und schwebten in den Wolken.«
»Stelle dir mal vor, Rodja, auf was für ein Thema die gestern zu sprechen kamen: gibt es Verbrechen oder nicht? Ich sagte ihnen, sie wären verrückt geworden mit ihrem Debattieren!«
»Was ist dabei Verwunderliches? Das ist ja eine ganz gewöhnliche soziale Streitfrage«, antwortete Raskolnikow zerstreut.
»Die Frage war nicht in dieser Weise formuliert«, bemerkte Porfirij.
»Nicht ganz so, das ist richtig«, bestätigte ihm Rasumichin schnell, der nach seiner Gewohnheit in Eifer und Hitze geriet. »Höre mal zu, Rodja, und sage mir deine Meinung; du tust mir einen Gefallen damit. Ich wollte gestern bei dem Gerede der Kerle aus der Haut fahren und wartete ungeduldig auf dich; ich hatte ihnen gesagt, daß du kommen würdest … Zuerst wurde die Ansicht der Sozialisten vorgebracht. Diese Ansicht ist ja bekannt: das Verbrechen ist ein Protest gegen die Abnormität der sozialen Einrichtungen – basta, weiter nichts; andre Ursachen werden nicht anerkannt, basta! …«
»Das stellst du doch ganz falsch dar!« rief Porfirij Petrowitsch. Er wurde sichtlich lebhafter und lachte fortwährend bei Rasumichins Anblicke, wodurch dieser immer noch mehr in Rage geriet.
»Andre Ursachen werden von ihnen nicht anerkannt!« unterbrach ihn Rasumichin erregt. »Ich stelle es nicht falsch dar! Ich will dir Bücher zeigen, die sie darüber geschrieben haben; immer heißt es bei ihnen: ›die Gesellschaft ist daran schuld‹, weiter nichts. Das ist ihr beliebtes Schlagwort! Daraus folgt dann ohne weiteres, daß, wenn es gelingt, die Gesellschaft normal einzurichten, mit dem Wegfall jedes Anlasses zu einem Proteste sofort auch alle Verbrechen verschwinden und alle Menschen im Nu gerecht werden. Aber die Natur wird von ihnen nicht in Betracht gezogen; die wird in diesen Erwägungen ignoriert, die wird nicht als Faktor in die Rechnung eingesetzt. Nach ihrer Ansicht verhält es sich nicht so, daß die Menschheit auf historischem, organischem Wege sich weiterentwickelt und schließlich zum Normalzustande gelangt, sondern ein soziales System, das Produkt eines mathematischen Kopfes, wird sofort die ganze Menschheit in Ordnung bringen und sie im Nu gerecht und sündlos machen, schneller als jeder organische Prozeß, ohne jede historische und organische Entwicklung! Daher haben sie auch eine solche instinktive Abneigung gegen die Geschichte; ›die Geschichte‹, sagen sie, ›ist ein Gemenge von Schändlichkeiten und Dummheiten‹, und erklären alles nur aus der Dummheit. Darum haben sie auch eine solche Abneigung gegen den organischen Lebensprozeß: eine lebendige Seele brauchen sie nicht! Eine lebendige Seele verlangt zu leben; eine lebendige Seele fügt sich nicht in einen Mechanismus; eine lebendige Seele ist mißtrauisch; eine lebendige Seele opponiert! Aber den Menschen, der in ihr System paßt, den kann man aus Kautschuk machen; und wenn er auch einen Kadavergeruch hat – dafür ist er auch nicht lebendig, dafür ist er auch willenlos, dafür ist er auch sklavisch und rebelliert nicht. Kurz, sie denken an nichts als an die Aufführung der Mauern und die Anordnung der Korridore und Zimmer in ihrer großen Phalanstère. Die Phalanstère ist fertig; aber die menschliche Natur dafür passend zu machen, damit sind sie noch nicht fertig. Die menschliche Natur will leben; sie hat ihren organischen Entwicklungsprozeß noch nicht abgeschlossen; sie auf den Kirchhof zu bringen, damit ist es noch zu früh! Mit der kahlen Logik kann man sich über die Natur nicht hinwegsetzen! Die Logik sieht vielleicht drei mögliche Arten voraus, wo es ihrer eine Million gibt! Diese ganze Million beiseite zu schieben lediglich mit Rücksicht auf die Bequemlichkeit beim Aufbau des Systems, das ist allerdings die leichteste Lösung der Aufgabe. Das ist von einer verführerischen Übersichtlichkeit, und das Denken spart man dabei ganz. Und das ist die Hauptsache: man spart dabei das Denken! Das ganze geheimnisvolle Problem des Lebens läßt sich dann auf zwei Druckseiten abtun!«
»Na, nun ist er aber in Zug gekommen; jetzt schlägt er gehörig die Trommel! Wenn er nun aufhören soll, muß man ihm die Hände festhalten!« rief Porfirij lachend. »Stellen Sie sich das nur vor«, wandte er sich an Raskolnikow, »ebenso ging es gestern abend zu, und immer sechs Stimmen zugleich, und überdies hatte er die Streitenden vorher mit Punsch bewirtet – können Sie sich davon eine Vorstellung machen? – Nein, Bruder, du irrst dich: ›die Gesellschaft‹ ist bei den Verbrechen allerdings ein sehr wesentlicher Faktor; das kannst du mir glauben.«
»Das weiß ich selbst, daß sie ein wesentlicher Faktor ist; aber beantworte mir mal diese Frage: wenn ein Mann von vierzig Jahren ein zehnjähriges Mädchen mißbraucht, hat ihn dann ›die Gesellschaft‹ dazu genötigt?«
»Nun, wenn man es genau nimmt, trägt vielleicht auch daran ›die Gesellschaft‹ mit die Schuld«, bemerkte Porfirij mit auffälligem Ernste. »Ein Verbrechen an einem kleinen Mädchen läßt sich sehr wohl auf ›die Gesellschaft‹ als Ursache zurückführen.«
Rasumichin wurde ordentlich wütend.
»Na«, schrie er, »wenn du willst, so werde ich dir sofort beweisen, daß die weiße Farbe deiner Wimpern einzig und allein daher kommt, daß der Moskauer Glockenturm Iwan Welikij zweihundertfünfzig Fuß hoch ist, und ich will dir das klar, genau, progressiv und sogar mit liberaler Nuance beweisen. Dazu mache ich mich anheischig. Nun, willst du wetten?«
»Ich nehme die Wette an! Wir wollen doch mal hören, wie er das beweisen wird!«
»Ach, er tut ja immer nur so, der Kerl!« rief Rasumichin, vom Stuhle aufspringend, mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Es lohnt sich gar nicht, mit dir über etwas zu reden! Das ist alles bei ihm Verstellung; du kennst ihn bloß noch nicht, Rodja! Auch gestern nahm er für die Verfechter dieser Ansicht Partei, nur um sie alle zum Narren zu halten. Und was er gestern für Zeug zusammengeredet hat, o Gott, o Gott! Und die hatten ihre helle Freude an ihm! … Solche Verstellung ist er imstande vierzehn