Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
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»Und von Ihnen hat mir der Verstorbene noch zu seinen Lebzeiten erzählt … Ich kannte nur damals Ihren Namen nicht, und er selbst kannte ihn auch nicht … Aber gestern erfuhr ich nun Ihren Namen und Ihre Adresse, und als ich heute herkam, da fragte ich: wo wohnt hier Herr Raskolnikow? … Ich wußte gar nicht, daß Sie auch in einem möblierten Zimmer wohnen … Adieu! Ich werde alles an Katerina Iwanowna bestellen …«
Sie war sehr froh, endlich loszukommen; sie ging mit gesenktem Kopfe eilig dahin, um ihnen nur recht schnell aus dem Gesichtskreis zu kommen, um nur recht schnell diese zwanzig Schritte bis zu der Straßenecke, wo sie nach rechts einbiegen mußte, zurückzulegen und endlich allein zu sein und dann im eiligen Dahinschreiten, achtlos und unbekümmert um die Begegnenden und alles ringsumher, nachzudenken, sich zu erinnern und sich jedes gesprochene Wort, jeden Umstand noch einmal zu vergegenwärtigen. Noch niemals hatte sie etwas Ähnliches empfunden. Ihre Seele hatte in eine große, neue Welt, die ihr noch ganz unbekannt gewesen war, einen – freilich flüchtigen – Blick geworfen. Da fiel ihr auf einmal ein, daß Raskolnikow selbst noch heute zu ihr kommen wollte, vielleicht noch am Vormittag, vielleicht sogar jetzt gleich!
›Nur nicht heute schon, bitte, nicht heute!‹ murmelte sie mit heftiger Herzbeklemmung, als ob sie jemanden anflehte, wie ein geängstigtes Kind. ›O Gott! Zu mir … in dieses Zimmer, … er wird alles sehen … o Gott!‹
Sie war in diesem Augenblicke natürlich nicht imstande, einen ihr unbekannten Herrn zu beachten, der sie angelegentlich beobachtete und ihr auf dem Fuße folgte. Er begleitete sie schon, seit sie aus dem Torwege herausgetreten war. In dem Augenblicke, als alle drei, Rasumichin, Raskolnikow und sie, auf dem Trottoir standen und noch ein paar Worte miteinander redeten, war dieser Passant plötzlich zusammengezuckt, als er, um die Gruppe herumgehend, zufällig Sonjas Worte auffing: »Da fragte ich: wo wohnt hier Herr Raskolnikow?« Er hatte schnell, aber aufmerksam alle drei gemustert und besonders Raskolnikow, zu dem Sonja sprach; darauf hatte er sich das Haus angesehen und gemerkt. Alles dies hatte sich in einem Augenblicke, während er vorbeiging, abgespielt, und der Fremde war, ohne sich etwas merken zu lassen, weitergegangen, jedoch in etwas langsamerem Schritte, wie wenn er auf jemand wartete. Er hatte auf Sonja gewartet; denn er hatte gesehen, daß sie sich verabschiedete, und vermutet, daß sie nun wohl irgendwohin gehen würde, wo sie ihre Wohnung hätte.
›Wo mag sie wohnen? Ich habe dieses Gesicht doch schon irgendwo gesehen‹, hatte er gedacht und sich zu erinnern gesucht. ›Das muß ich herausbekommen.‹
Als er die Straßenecke erreicht hatte, ging er auf die andere Seite der Straße hinüber, drehte sich um und sah, daß Sonja, ohne auf irgend etwas zu achten, … bereits hinter ihm ging, denselben Weg; denn als sie an die Straßenecke gekommen war, war auch sie in die Seitenstraße eingebogen. Er hatte sie nun auf dem gegenüberliegenden Trottoir begleitet, allmählich zurückbleibend, ohne sie aus den Augen zu lassen; nach etwa fünfzig Schritten war er wieder nach dem Trottoir hinübergegangen, auf welchem Sonja ging, hatte sie eingeholt und ging nun in einem Abstande von ungefähr fünf Schritten hinter ihr her.
Es war ein Mann von ungefähr fünfzig Jahren, etwas über Mittelgröße, wohlbeleibt, mit breiten, dicken Schultern, was seine Haltung etwas gebückt erscheinen ließ. Er war elegant und bequem gekleidet und machte einen recht stattlichen Eindruck. In der Hand hatte er einen hübschen Spazierstock, den er bei jedem Schritte auf das Trottoir aufschlagen ließ; seine Hände steckten in neuen Handschuhen. Sein breites Gesicht mit den starken Backenknochen wirkte ganz angenehm, und die Gesichtsfarbe war frisch und gesund, wie es bei einheimischen Petersburgern nicht der Fall zu sein pflegt. Das noch sehr dichte Haar war ganz hellblond und nur äußerst wenig mit Grau meliert, und der breite, dichte Bart, der schaufelförmig herabhing, war noch heller als das Kopfhaar. Seine Augen waren blau; ihr Blick hatte etwas Kaltes, Starres, Überlegendes; die Lippen zeigten eine frische Röte. Überhaupt hatte er sich vorzüglich erhalten und sah viel jünger aus, als er wirklich war.
Als Sonja die Kanalstraße erreichte, waren sie die beiden einzigen Passanten auf dem Trottoir. Bei seinen Beobachtungen hatte er bereits ihre Nachdenklichkeit und Zerstreutheit bemerkt. Als Sonja ihr Haus erreicht hatte, bog sie in den Torweg ein; er folgte ihr und schien einigermaßen erstaunt zu sein. Auf dem Hofe wandte sie sich nach rechts, nach derjenigen Ecke, wo sich die zu ihrer Wohnung hinaufführende Treppe befand. »Na, so was!« murmelte der unbekannte Herr und begann hinter ihr her die Stufen hinaufzusteigen. Erst jetzt bemerkte ihn Sonja. Sie ging bis zum zweiten Stockwerk in die Höhe, bog in eine Außengalerie ein, die sich auf der Hofseite entlangzog, und klingelte an der Wohnung Nr. 9, an deren Tür mit Kreide angeschrieben stand: »Kapernaumow, Schneider«. »Na, so was!« sagte der Unbekannte noch einmal, verwundert über dieses eigentümliche Zusammentreffen, und klingelte daneben, bei Nr. 8. Die beiden Türen waren nur etwa sechs Schritte voneinander entfernt.
»Sie wohnen bei Kapernaumow«, sagte er und sah Sonja lachend an. »Er hat mir gestern eine Weste umgeändert. Und ich wohne hier neben Ihnen, bei Madam Gertruda Karlowna Rößlich. Wie sich das trifft!«
Sonja blickte ihn aufmerksam an.
»Wir sind also Nachbarn«, fuhr er in sehr heiterem Tone fort. »Ich bin erst seit vorgestern in der Stadt. Nun, vorläufig adieu, auf Wiedersehen!«
Sonja antwortete nicht; die Tür wurde geöffnet, sie schlüpfte hinein und ging in ihre Stube. Sie schämte sich, und ein seltsames Angstgefühl überkam sie.
Rasumichin befand sich, während sie zu Porfirij gingen, in einem Zustande besonderer Aufregung.
»Das ist prächtig, Bruder!« wiederholte er einmal über das andre. »Und ich freue mich, ich freue mich!«
›Worüber freust du dich denn nur?‹ fragte sich Raskolnikow im stillen.
»Das habe ich ja gar nicht gewußt, daß du auch etwas bei der alten Frau versetzt hattest. Und … und … ist das schon lange her? Ich meine: wann bist du zuletzt dagewesen?«
›Ist das ein naiver Tropf!‹ dachte Raskolnikow.
»Wann ich zuletzt da war?« antwortete er, indem er stehenblieb und nachdachte. »Zwei Tage vor ihrem Tode mag es gewesen sein, daß ich da war. Übrigens, die Sachen auszulösen ist jetzt bei diesem Gange nicht meine Absicht«, fügte er hastig und mit einer geflissentlich herausgekehrten Besorgtheit um die Sachen hinzu. »Ich habe ja wieder nur einen einzigen Rubel in meinem Besitze … infolge des Streiches, den ich gestern im Fieber begangen habe.«
Das Wort »Fieber« sprach er mit besonderem Nachdruck.
»Nun ja, ja, ja!« stimmte ihm Rasumichin eilig zu, wobei aber unklar blieb, worauf sich seine Zustimmung eigentlich bezog. »Also das ist der Grund, weshalb damals … das Gespräch von dem Morde so auf dich wirkte, … und weißt du, auch im Fieber hast du immer von Ringen und Ketten phantasiert! … Na ja, ja … Das ist ja klar, nun ist alles klar.«
›Holla!‹ dachte Raskolnikow. ›Dieser Gedanke hat sich bei ihnen also doch festgesetzt! Der gute Mensch hier würde sich für meine Unschuld ans Kreuz schlagen lassen, und doch ist er froh, daß es sich, wie er meint, aufgeklärt hat, warum ich im Fieber von Ringen geredet habe! Wie fest sich dieser Gedanke bei ihnen allen eingenistet hat!‹
»Werden wir ihn auch zu Hause antreffen?« fragte er laut.
»Ganz bestimmt, ganz bestimmt«, erwiderte Rasumichin. »Du wirst sehen, Bruder, er ist ein prächtiger Mensch. Ein bißchen plump; das heißt, er hat gewandte Formen, aber ich meine plump in anderer Hinsicht. Ein gescheiter Kerl, sogar sehr klug und gescheit, nur hat seine ganze Art zu denken etwas Eigentümliches. Mißtrauisch, skeptisch, prosaisch ist er, … er betrügt einen gern, das heißt, er betrügt einen nicht eigentlich, sondern führt einen an. Na, und