Moderne Geister: Literarische Bildnisse aus dem neunzehnten Jahrhundert. Georg Brandes
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V.
Es ist wahrscheinlich, dass ein Künstler, der bis zu seinem 24. Jahre schon so viel hervorbrachte, im Laufe der Zeit einen weitverbreiteten Ruf erlangen wird. Ich glaube nicht, dass es ihm gelingt, sich eine ebenso grosse Herrschaft über die Mittel der Malerkunst zu erwerben, wie über die der Radirkunst. Seine verschiedenartigen Versuche bisher waren versprechend, doch nicht entscheidend. Als das, was er vorläufig ist, d. h. als Maler-Radirer, ist er ein grosser Componist und ein wahrer Dichter in seiner Kunst. Er scheint mir besonders darum interessant, weil er, zu dessen Glaubensbekenntniss es gehört, kein Nationalgefühl zu haben, er, der von dem Spanier Goya und dem Deutschen Böcklin fast gleich tief beeinflusst ist, der mit Ausnahme von Gussow und Menzel nur französische Malerkunst schätzt und selten ein modernes deutsches Buch zur Hand nimmt, sondern entweder den Simplicissimus oder moderne französische Schriftsteller wie Zola oder noch lieber die Brüder Goncourt liest, — dass er trotz alledem so tief national ist. Es steckt etwas Urdeutsches in ihm, etwas von der metaphysischen Phantastik Jean Paul's und E. Th. A. Hoffmann's (von welch' Ersterem er ein grosser Bewunderer ist), etwas von der Innigkeit und dem tiefen Schönheitssinn Franz Schubert's, den er spielt und liebt; und dabei hat er doch sein eignes, weit mehr modernes Element, neue Formen für eine neue Innigkeit, neue Ausdrücke für Sehnsucht, Wollust, Humor, Selbstironie und das grosse melancholische Pathos. Wenn jeder Stoff, den er berührt, sich verjüngt, wenn er Amor, den man doch Grund hatte, lediglich als Zopf zu betrachten, von neuem lebendig und möglich machte, so beruht dies auf der persönlichen, nervösen Art, mit der er den Stoff anpackt; und diese Form von Nervosität kommt erst in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor.
Klinger ist ein ausgezeichneter Beobachter, der treu nach der Wirklichkeit studirt, der Mann vollendeter Beobachtung. Man sehe z. B., wie er in seinen schlafenden Gestalten den Schlaf studirt hat; man sehe die Haltung und Bewegung seiner Vögel; man sehe die Geberde, mit der Amor's und Psyche's kleiner Sohn dem Jupiter in die Stirnhaare greift. Klinger ist sogar unbarmherzig in seiner Treue gegen die Wirklichkeit; er erspart den Nerven des Betrachters nicht die volle Pein des Eindrucks: oft scheint es, dass er sich gleichsam über die hergebrachte Geziertheit und Zurückhaltung in der Darstellung des Natürlichen lustig mache; so stark fühlt er es, dass der Künstler, wenn er sich den Normen der guten Gesellschaft anbequemt, sowohl komischer als ernst wirkender Effecte verlustig geht, dass ganze Stösse von seinen Zeichnungen — darunter verschiedene, welche die Nationalgallerie in Berlin gekauft hat — der Oeffentlichkeit nicht vorgelegt werden können. Man muss zu Huysmanns und Guy de Maupassant gehen, um literarische Seitenstücke zu finden. Insofern ist er Naturalist bis in die Fingerspitzen.
Aber im Herzen ist er Pantheist. Seine Phantasie bohrt sich gleichsam in den Mittelpunkt, von dem die schwellende Fülle des Lebens ausgeht, schafft mit, schafft um, bildet neue Organismen, neue Fabelthiere, neue Ausdrücke für Gefühle, neue oder erneute Sinnbilder für Glückseligkeit, Entbehren, Schrecken und Vernichtung. Er wäre der Mann, der durch geistvolle Illustrationen Gustave Flaubert's „Versuchung des heiligen Antonius“ zu einem anziehenden Werk machen könnte. Er hat an der Quelle gestanden, welcher die ältesten Phantasien über die Natur entströmten, und er hat von dieser Quelle getrunken.
Ernest Renan.
(1880.)
Ich hatte nicht die Absicht, Renan aufzusuchen, als ich die Monate April bis September 1870 in Paris verbrachte; ich habe immer einen wahren Schrecken davor gehabt, unter dem Vorwand der Bewunderung berühmten Männern ihre Zeit zu rauben. Als aber Taine, der nächste Freund Renan's, mich wiederholt aufforderte, „seinen Freund, den Philologen“ zu besuchen, fasste ich mir ein Herz und fand mich, mit einem Empfehlungsschreiben von Taine versehen, eines Tages in dem Hause Rue de Vannes ein, wo Renan drei Treppen hoch wohnte. Seine Wohnung war einfach. Seit ihm der hebräische Lehrstuhl im Collége de France genommen wurde, war er ohne jegliche feste Einnahme, und nur seine erste populäre Schrift war sehr einträglich gewesen.
Nach den Werken und den Portraits Renan's hatte ich ihn mir ungefähr als einen feineren Jules Simon vorgestellt, philanthropisch, milde, den Kopf ein bischen schräg; ich fand ihn bestimmt, kurz und kühn in seinen Aeusserungen, entschieden in seinen Meinungen; er hatte Etwas von der Verschämtheit des Gelehrten, aber noch mehr von der Sicherheit und Ueberlegenheit des Weltmannes. Renan war damals 47 Jahre alt. Ich sah an dem Arbeitstisch einen kleinen, breitschulterigen, etwas gebeugten Mann mit einem schweren grossen Kopf. Das glattrasirte Gesicht mahnte daran, dass Renan ursprünglich zum Geistlichen bestimmt gewesen; grobe Züge, die Haut unrein, tiefblickende, blaue Augen, die sich nur ab und zu auf einen richteten, und ein kluger, auch im Schweigen beredter Mund. Das unschöne aber anziehende Gesicht mit dem Ausdruck des hohen Verstandes und des angestrengten Fleisses war von langen braunen, an den Schläfen in's Weisse übergehenden Haaren eingefasst. Seine Person erinnerte mich an einen Satz von ihm selbst: La science est roturière.
I.
In ganz jungen Jahren hatte ich mich von Renan's Werken zurückgestossen gefühlt; er ist überhaupt kein Schriftsteller für die Jugend. Sein „Leben Jesu“, das mir zuerst in die Hände fiel, ist ausserdem wohl sein schwächstes Werk; seine Sentimentalität, eine hier bisweilen störend hervortretende Salbung, dieser letzte Rest einer priesterlichen Erziehung, alles das, was einem Jüngling entweder weichlich oder unecht erscheinen musste, liess mich nicht zur gerechten Würdigung seiner grossen schriftstellerischen Eigenschaften kommen. Jener erste Eindruck hatte sich später verloren; die schöne Sammlung „Études d'histoire religieuse“ hatte meine Augen für das fast weibliche Feingefühl geöffnet, das nur einem jugendlichen, noch spröden Geist wie dem meinen, oder einer revolutionären, ungeduldigen Jugend wie der des heutigen Italien, als etwas Unmännliches erscheinen kann, und ich fand es ganz natürlich, dass er, den man mit Recht „den Furchtsamsten unter den Kühnen“ genannt hat, sich nicht ohne Wehmuth über seine Ausnahmestellung aussprach: „Die schlimmste Qual, durch welche der Mann, der sich zu einem Leben