Moderne Geister: Literarische Bildnisse aus dem neunzehnten Jahrhundert. Georg Brandes
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Während ich in diesen Worten halbwegs eine Ausflucht sah, um nicht die Verhältnisse naher Freunde beurtheilen zu müssen, halbwegs ein Anzeichen der französischen Eigenschaft, jede Nationaleigenthümlichkeit, wie unglücklich sie auch sei, als unabänderliches Racenmerkmal darstellen zu wollen, legte ein Anwesender, einer der vorurtheilsfreiesten französischen Schriftsteller seine Hand auf den Kopf seiner kleinen Tochter, eines Kindes von zwei Jahren und sagte: „Sie meinen also, ich sollte mein kleines Mädchen dem ersten besten Manne geben, der, ohne sich an uns, ihre Eltern zu wenden, sich ihr Herz erschleichen könnte. Erinnern Sie sich doch, wie gross die Unerfahrenheit eines jungen Mädchens ist, vergessen Sie doch nicht die Beschaffenheit der wirklichen Welt, nicht, welche Schufte es gibt, nicht, welche Vorzeit, welche Krankheiten, welche bestialischen Neigungen ein junger Mann haben kann, Eigenschaften, die das Auge eines Vaters ahnt, deren Anwesenheit aber das unschuldige Gemüth eines jungen Mädchens nicht für denkbar halten kann oder darf. Die Welt ist ein Feind. Sollte ich denn nicht nach Kräften meine kleine Tochter gegen den Feind vertheidigen? Wenn einmal in fünfzehn Jahren sich Freiwerber für sie anmelden, so wollen wir, wenn wir bis dahin am Leben sind, uns solcherweise betragen: wir werden die aussondern, die nicht in Betracht kommen können entweder wegen ihrer bürgerlichen Stellung oder wegen moralischer oder körperlicher Schwächen, wir werden eine Auslese (triage) unternehmen, und erlauben dann im Uebrigen, wie alle Eltern, dem jungen Mädchen, zu wählen, wie es will“. Als Voraussetzung dieser Betrachtungsweise muss man sich der abgesperrten Erziehung der Töchter in dem Kloster oder in der Pension erinnern. Mit dieser — selbst wenn jede Rücksicht auf die grössere Feurigkeit und Sinnlichkeit der romanischen Nationen genommen wird — ungereimten Voraussetzung vor Augen, wird die gezogene Folgerung vielleicht vernünftig.
III.
Ich hielt mich zur Zeit der deutsch-französischen Kriegserklärung in London auf und da ich das Glück hatte, dort mit einigen unparteiischen Männern von grosser politischer Einsicht zu verkehren, ahnte ich früher als meine französischen Bekannten all' das Missgeschick, das der Krieg über Frankreich bringen würde. Bei meiner Rückkehr nach Paris war man dort voller Hoffnung und Zuversicht, ja man legte bekanntlich sogar einen Uebermuth an den Tag, der jeden Fremden unheimlich berühren musste. Dieser Uebermuth wurde jedoch nicht von den Männern der Wissenschaft getheilt. Noch war es zu keiner Schlacht gekommen; aber schon die Nachricht von dem Selbstmord Prévost-Paradol's in Nordamerika hatte einen Jeden, der ihn kannte und es wusste, wie genau die Vorbereitungen und Hilfsquellen Frankreichs dem Verfasser von „La France nouvelle“ bekannt seien, mit den peinlichsten Vorgefühlen erfüllt. Denn Niemand bezweifelte, dass er, wenn auch nach einem Fieberanfall, so doch mit vollem Bewusstsein und vollem Vorsatz Hand an sich gelegt habe. Dass er nicht einfach sein Abschiedsgesuch als Gesandter eingab, hatte — so schien es — darin seinen Grund, dass er allzu stolz war, um überhaupt jemals einen Irrthum einzuräumen; er that es nicht einmal in einem Wortwechsel; und jetzt hatte er den dreifachen Irrthum begangen: an die Aufrichtigkeit der konstitutionellen Bestrebungen des Kaisers zu glauben, den Posten als Gesandter in Washington zu suchen und endlich diesen Posten nicht sogleich aufzugeben, als die hässliche Komödie der allgemeinen Abstimmung im Mai bewies, was die konstitutionellen Velleitäten des Kaisers zu bedeuten hatten. Jetzt kam die Kriegserklärung, die ihm mit dem Untergang Frankreichs gleichbedeutend vorkam, und er zog den Tod einer Stellung vor, in der er nicht verbleiben konnte, und aus welcher er sich nicht ohne eine Demüthigung, die ihm schlimmer als der Tod war, zu ziehen vermochte. Aber dieser einsame Pistolenschuss, der über den Ocean als ein Signalschuss der vielen Hunderttausende schrecklicher Salven ertönte, erschütterte alle die Jugendfreunde und Genossen Prévost-Paradol's. Taine, der eine kurze Reise nach Deutschland gemacht hatte um Materialien für einen Aufsatz über Schiller zu sammeln, der durch den Krieg vereitelt wurde, war durch den Gedanken an das Bevorstehende schmerzlich bewegt. „Ich komme eben aus Deutschland“, sagte er, „und habe mit so vielen arbeitsamen, zum Theil ausgezeichneten Männern gesprochen. Wenn ich bedenke, wie viel Mühe es kostet, ein Menschenkind zu gebären, es zu pflegen, zu erziehen, zu unterrichten und auszustatten, wenn ich ferner bedenke, wie viele Kämpfe und Beschwerden es selbst aushalten muss, um sich für das Leben vorzubereiten, und dann erwäge, wie alles dieses jetzt als ein Haufe blutigen Fleisches in eine Gruft geworfen werden soll, wie kann ich dann anders als trauern! Mit zwei Regenten von der Art Louis Philippe's hätten wir dem Krieg entgehen können; mit zwei Capitaines, wie Bismarck und Louis Napoleon, war er nothwendig“. Er war damals der erste Franzose, den ich die Möglichkeit der deutschen Ueberlegenheit in Betracht ziehen hörte.
Dann kamen Schlag auf Schlag die ersten Nachrichten von grossen Niederlagen, nur gleich nach der Botschaft von der Schlacht bei Weissenburg durch falsche Siegesgerüchte unterbrochen. Düster und traurig war die Stimmung der Stadt an den Tagen, als die Proklamationen an den Strassenecken von geschlagenen Heeren und verlorenen Schlachten erzählten, aber fürchterlicher noch war die Stimmung in Paris an jenem 6. August, da die erste Hälfte des Tages in tollem Siegesrausche, die andere Hälfte in verschämter Abspannung verging — wie gross würde erst die Beschämung gewesen sein, wenn man von der in derselben Stunde gelieferten Schlacht bei Wörth etwas geahnt hätte! Als sich am frühen Morgen die Nachricht von einem grossen gewonnenen Siege verbreitete, bedeckte ganz Paris sich mit Fahnen; alle Leute gingen mit kleinen Flaggen an dem Hut; alle Pferde hatten kleine Flaggen an der Stirn. Ich sass vor einem Café dem Hôtel de Ville gegenüber und betrachtete die mit Hunderten von Fahnen geschmückten Häuser des Platzes, als plötzlich durch das Fenster eines mir nahen Hauses eine Hand sich zeigte, die eine herausgestellte Fahne zurückzog. Ich werde nie diese Hand und diese Bewegung vergessen. So gering der Vorgang war, er machte mich stutzig, denn diese Hand hatte etwas so trauriges, so enttäuschtes in ihrer Bewegung, dass mir augenblicklich der Gedanke kam: Die Siegesnachricht muss falsch sein! ... Bald zeigten sich ringsum in den Fenstern Hände, die Fahnen hereinzogen, und in einer Viertelstunde war der ganze Flaggenschmuck wie weggeweht: Wie nackt die Häuser aussahen! Eine Proklamation der Regierung hatte eben erklärt, „dass heute durchaus nichts vom Kriegsschauplatz verlaute und dass die Polizei auf den Spuren der Verbreiter falscher Nachrichten sei, um sie strengstens zu bestrafen“. Die Verbreiter falscher Nachrichten! Als ob nicht die hungernde Phantasie und die schmachtende Sehnsucht der grossen Stadt die einzigen Schuldigen wären!
Ungefähr eine Woche später, am 12. August, traf ich Renan, der vor der festgesetzten Zeit vom hohen Norden zurückgekommen war. Er fasste meine Hand und drückte sie mit beiden Händen. Ich habe ihn nie so bewegt gesehen. Drauf nahm er meinen Arm und ging eine volle Stunde mit mir Strasse auf Strasse ab. Er war verzweifelt, dies triviale Wort ist das einzig passende. Er war ausser sich vor Erbitterung. „Nie“, sagte er, „wurde ein unglückliches Volk so wie das unsrige von Dummköpfen regiert. Man sollte glauben, dass der Kaiser einen Anfall von Wahnsinn gehabt hätte. Aber er ist von den verächtlichsten Schmeichlern umringt; ich kenne hohe Offiziere, die es sehr wohl wussten, dass die preussischen Kanonen unsere gepriesenen Mitrailleusen übertreffen, die es aber dem Kaiser zu sagen nicht wagten, weil er sich mit diesen Sachen selbst beschäftigt, ein bischen an den Entwürfen gezeichnet hat, was in der offiziellen Sprache so ausgedrückt wird, dass er der Erfinder des Geschützes ist. Nie war so wenig Kopf (si peu de tête) in einem Ministerium des Kaisers; er hat es selbst eingesehen; ich kenne Jemand, dem er es gesagt hat, und dann führt er Krieg