Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen & Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). О. Генри
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»So so,« sprach er langsam, »das ist also der kleine Lord Fauntleroy.«
Zweites Kapitel.
Cedriks Freunde
In der Woche, die nun folgte, gab es wohl keinen erstaunteren und verblüffteren kleinen Jungen als Cedrik; die ganze Woche war aber auch höchst seltsam und unwahrscheinlich. Erstens einmal war die Geschichte, die seine Mama ihm erzählte, eine ganz wunderliche, und er mußte sie zwei- oder dreimal hören, bis er sie verstand, was aber Mr. Hobbs davon halten würde, darüber war er sich auch dann noch nicht klar. Die Geschichte fing mit Grafen an, sein Großvater, den er nie gesehen hatte, war ein solcher, und sein ältester Onkel wäre dann später ein Graf geworden, wenn er nicht durch einen Sturz vom Pferde getötet worden wäre, nach einem Tode hätte dann sein zweiter Onkel Graf werden sollen, der war aber in Rom ganz plötzlich am Fieber gestorben. Nun wäre es schließlich an seinem eignen Papa gewesen, den Titel zu bekommen, da aber alle tot waren und niemand übrig, kam es zu guter Letzt darauf hinaus, daß er nach seines Großvaters Tode der Graf und Erbe werden würde – und jetzt für den Augenblick war er Lord Fauntleroy.
Als er dies zuerst erfuhr, ward er ganz bleich.
»O Herzlieb!« sagte er, »ich möchte lieber kein Graf sein. Keiner von den andern Jungen ist ein Graf. Kann ich nicht keiner sein?«
Die Sache schien sich jedoch nicht umgehen zu lassen, und als er abends mit seinem Mütterchen am Fenster saß und in die armselige Straße hinausblickte, sprachen sie lange und eingehend darüber. Cedrik saß auf seiner Fußbank, das eine Bein übergeschlagen, wie es seine Lieblingsstellung war, und sein kleines Gesicht war ein wenig verstört und ganz rot vor lauter Nachdenken. Sein Großvater wollte, daß er nach England kommen solle, und hatte deshalb den alten Herrn geschickt.
»Ich weiß, daß dein Papa sich darüber freuen würde,« sagte seine Mama, die traurigen Augen dem Fenster zugewendet. »Sein Herz hing sehr an seiner Heimat, und dann sind dabei auch noch viele Dinge zu bedenken, die du noch nicht verstehen kannst, mein Kind. Ich würde eine sehr selbstsüchtige Mama sein, wenn ich dich nicht reisen ließe – das wirst du alles begreifen, wenn du erst erwachsen bist.«
Cedrik schüttelte wehmütig das Köpfchen. »Es thut mir so leid, wenn ich von Mr. Hobbs fort muß,« sagte er. »Ich habe Angst, er wird mich vermissen und er wird mir sehr fehlen – er und all die andern.«
Als Mr. Havisham, welcher der langjährige Sachwalter des Grafen Dorincourt war, und der die Mission hatte, Lord Fauntleroy nach England zu bringen, am nächsten Tage wiederkam, erfuhr Cedrik sehr viel Neues, allein es war ihm gar nicht sehr tröstlich, zu erfahren, daß er dereinst ein sehr reicher Mann sein und hier ein Schloß und dort ein Schloß, große Parks, Bergwerke und Ländereien und viele Dienerschaft besitzen werde. Er war sehr bekümmert im Gedanken an seinen Freund, Mr. Hobbs, und bald nach dem Frühstück suchte er ihn voll Herzensangst in seinem Laden auf.
Er fand ihn die Zeitung lesend und trat ihm mit ernster Miene gegenüber: er wußte ja, daß das, was ihm widerfahren, für Mr. Hobbs ein herber Schlag sein mußte, und er hatte sich's unterwegs genau überlegt, wie er ihm die Sache beibringen wollte.
»Hallo!« sagte Mr. Hobbs. »'Morgen!«
»Guten Morgen,« sagte Cedrik. Er kletterte nicht wie sonst auf seinen hohen Stuhl, sondern setzte sich auf einen Biskuitkasten und schlug die Beine übereinander und schwieg so lange, bis Mr. Hobbs fragend über sein Zeitungsblatt hinüber nach ihm hinschielte.
»Hallo!« sagte er noch einmal.
Cedrik faßte sich ein Herz.
»Mr. Hobbs,« begann er, »wissen Sie noch, von was wir gestern vormittag gesprochen haben?«
»Hm, ja, von England dächt' ich.«
»Freilich, aber gerade als Mary hereinkam, wissen Sie das noch?«
Mr. Hobbs rieb sich den Hinterkopf.
»Wir diskurierten über die Königin und die ›'Ristokraten‹.«
»Ja,« sagte Cedrik zögernd, »und, und über die Grafen; wissen Sie noch?«
»Jawohl,« erwiderte Mr. Hobbs, »die kamen schlecht weg dabei, wie sich's gehört!«
Cedrik ward rot bis unter sein lockiges Stirnhaar, in solcher Verlegenheit hatte er sich im Leben noch nie befunden und dabei ängstigte ihn das Gefühl, daß die Sache auch für Mr. Hobbs nicht ohne Verlegenheit ablaufen werde.
»Ja, und Sie sagten,« fuhr er fort, »daß Sie keinen von den 'Ristokraten auf Ihren Biskuitkisten herumsitzen lassen würden.«
»Das will ich meinen!« bestätigte Mr. Hobbs seinen Ausspruch mit Ueberzeugung. »Soll nur 'mal einer kommen, dem werd' ich's zeigen.«
»Mr. Hobbs,« sagte Cedrik schüchtern, »es sitzt aber einer auf dieser Kiste!«
Um ein Haar wäre Mr. Hobbs vom Stuhle gefallen.
»Was?« rief er.
»Ja,« erklärte Cedrik in gebührender Demut, »ich bin einer oder werde wenigstens später einer werden. Ich will Sie nicht hintergehen.«
Mr. Hobbs sah ganz alteriert aus; er erhob sich plötzlich und sah nach dem Thermometer.
»Muß wohl so was wie ein Sonnenstich sein,« erklärte er, seinen kleinen Freund scharf ins Auge fassend. »Die Hitze ist auch danach! Hast du Schmerzen? Seit wann fühlst du den Zustand?«
Er legte seine breite Hand auf des Knaben Haupt, und dieser war mehr denn je in Verlegenheit.
»Danke, danke,« sagte Cedrik, »ich bin ganz wohl und in meinem Kopfe ist alles in Ordnung, Es thut mir ja so leid, aber alles, was ich Ihnen gesagt habe, ist wahr, Mr. Hobbs; deshalb hat mich ja Mary gestern geholt, und Mr. Havisham hat meiner Mama alles gesagt und er ist ein Advokat.«
Mr. Hobbs sank in seinen Sessel und trocknete sich die Stirn mit seinem Taschentuch.
»Einer von uns beiden hat den Sonnenstich!« rief er.
»Nein,« versetzte Cedrik, »sicher nicht. Wir müssen uns eben drein finden, Mr. Hobbs. Mein Großpapa hat Mr. Havisham den ganzen Weg von England herübergeschickt, um uns das alles zu sagen.«
Mr. Hobbs starrte ganz bestürzt in das unschuldige, ernsthafte, kleine Gesicht vor ihm.
»Wer ist dein Großvater?« fragte er endlich.
Cedrik griff in seine Tasche und zog mit großer Sorgfalt einen kleinen Papierstreifen hervor, auf welchem in großen, unbeholfenen Buchstaben etwas geschrieben stand.
»Ich habe mir's nicht recht merken können, deshalb hab' ich's aufgeschrieben,« sagte er und las langsam: »John Arthur Molyneux Errol Graf Dorincourt! So heißt er und er wohnt in einem Schloß – in ein paar Schlössern, glaub' ich. Und mein Papa, der gestorben ist, war sein jüngster Sohn;