Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen & Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). О. Генри
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Читать онлайн книгу Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen & Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - О. Генри страница 239
»Ob ich das kann, ist hier gleichgültig; die Hauptsache ist, daß du höchst wahrscheinlich heut in der Nacht gestohlen haben wirst, ehe der Hahn zum drittenmal kräht.«
»So sage mir doch endlich, was mich reizen soll, eine solche Sünde gegen dein bescheidenes Eigentum zu begehen!«
»Ich spreche nicht von meinem, sondern von dem Eigentume unsers hochherzigen Gastgebers Franzl. Schau um dich, und schau über dich! Wende ganz besonders deinen Blick nach oben!«
»Ach, jetzt verstehe ich!« lachte er.
»Lache nicht, oh du mein armes Schmerzenskind! Wer bei dem Gedanken an die Sünde so leichten und fröhlichen Herzens sein kann, wie du bist, der ist ihr bereits verfallen. Du hast weder am Mittag noch am Abend etwas gegessen; es wird die Pein des Hungers über dich kommen und dich aus dem Schlafe wecken. Wenn du dann den erquickenden Duft der Fleischer-, Schlächter-, Selcher-und Wurstler-Gilde verspürst und dein geistiger Blick sogar zu gleicher Zeit nach jenen lieblichen Kuchenschragen gerichtet wird, so steht dir die schwerste Versuchung nahe, da in jeder Wurst ein Satan wohnt und der oberste der Teufel die Gewohnheit hat, grad die frömmsten Herzen mit geräuchertem Schinken zu bombardieren. Es ist meine Pflicht, dich zu warnen; nun sorge du dafür, daß meine wohlgemeinten Worte nicht auf den Felsen oder unter die Dornen fallen, wo sie nicht aufgehen und Früchte tragen können! Halte fest an deiner Pflicht, und bleibe ein ehrlicher Mensch! Und nun Gutenacht, mein teurer Sohn!«
»Gute Nacht, lieber Urgroßvater! Willst du dich wirklich schon schlafen legen?«
»Ja, denn es ist für die Gesundheit stets besser, der Nachtwächter zu sein, der die Nachtwacht in der Vormitternacht gewacht gehabt hat, als der Nachtwächter, der die Nachtwache in der Nachmitternacht gewacht gehabt hat. Auch das kannst du dir merken!«
»Ich wollte dich nur fragen, ob ich unsers Geldes wegen die Thür verriegeln soll?«
»Thue es, oder thue es nicht; das ist ganz egal, da wir nicht wissen, ob sich hier im Zimmer oder außerhalb desselben die gefürchteten diebischen Gelüste regen werden.«
»Hast du Zündhölzer bei dir?«
»Ja, ein ganzes Päckchen und das Fläschchen dazu.«
»So lege sie dir zu Hand! Ich werde zwar zuschließen, aber man weiß nicht, ob es fest genug ist. Schläfst du rechts oder links?«
»Auf beiden Seiten, denn ich pflege mich öfters umzudrehen.«
»Ich meine, in welchem Bette du schlafen willst!«
»Jedenfalls nicht in dem, in welches du dich legen wirst.«
»Schrecklicher Mensch! Ich nehme das hier rechts.«
»Wo grad die schönsten Würste darüber hängen? Nein, mein Sohn, das nehme ich. Leg du dich in das andere; da ist der Himmel leer!«
»Höre, Sappho, ich glaube, daß du mich vor dem Diebstahle gewarnt hast, nur um ihn selbst zu begehen!«
»Das beweist, daß du mit Muhammed, der auch einen falschen Glauben gepredigt hat, auf der gleichen Stufe stehst. Nun aber laß mich ruhen! Nochmals Gutenacht!«
»Gute Nacht, edler Meergreis; Schlaf wohl!«
Ich löschte das Licht aus, setzte es auf meinen Stuhl und legte mich nieder. Als ich grad am Einschlafen war, hörte ich Carpios Stimme:
»Höre, ob sie es wohl abgeben wird?«
»Was?«
»Nun, mein Empfehlungsschreiben.«
»Ach so! Ja, wo lebt denn dein Verwandter?«
»Das weiß ich nicht.«
»Was ist er?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wie heißt er?«
»Das weiß ich nicht.«
»Höre, lieber Freund, wenn dein Verwandter etwa nur in deiner Phantasie zu suchen ist, so war es eine Schlechtigkeit von dir, dieser armen Frau weiszumachen, daß – –«
»Schweig!« unterbrach er mich. »So ein Halunke bin ich natürlich nicht. Mein Verwandter existirt wirklich, aber nur für solche Leute, für welche ich ihn existiren lassen will.«
»Also für mich nicht?«
»Nein.«
»Für andere Mitschüler, wie ich erfahren habe, auch nicht?« »Nein.«
»Danke!«
»Bitte! Fühlst du dich etwa beleidigt?«
»Natürlich! Das nennt sich Busenfreund!«
»Hm! Sappho, ich will dir etwas sagen: Ich habe einen guten Grund, gewisse Menschen nicht über diesen meinen Verwandten aufzuklären.«
»Wer sind diese gewissen Leute?«
»Alle Personen männlichen Geschlechtes, welche ungefähr in meinem Alter stehen.«
»Warum grad dieses?«
»Das ist natürlich tiefstes Geheimnis, worüber ich ein ewiges Schweigen bewahren werde; dir aber will ich es enthüllen. Ich hoffe, daß du das für einen unanfechtbaren Beweis meiner Freundschaft halten wirst!«
»Selbstverständlich! Also – –?«
»Kein Masculinum meines Alters erfährt etwas über meinen Verwandten, weil – – weil – – hm, weil – – –«
»Nun – – weil – – –? Heraus damit!«
»Weil – – weil – – na, ich will es dir also sagen: Weil der Kerl dann hinüberfahren und sich für mich ausgeben könnte, um mich zu beerben.«
»Alle Donner! Carpio, bist du verrückt?«
»Nein. Grad dieses mein Verhalten muß dir beweisen, daß ich im Gegenteile ganz bei Sinnen, sogar ganz bei Scharfsinn bin.«
»Das bist ganz du! Bei dir wird eben alles zum Roman! Wer das thäte, was du sagtest, der wär ein Halunke!«
»Halunken giebt’s genug!«
»Er müßte falsche Papiere haben!«
»Falsche Papiere giebt’s genug!«
»Und ein ungeheurer Lügner sein!«
»Lügner giebt’s genug!«
»Er müßte auch dich und eure Verhältnisse kennen!«
»Solche Kenner giebt’s genug! Du siehst, daß du mich mit deinen Gegengründen nicht zu schlagen vermagst. Nein, nein, eine solche Erbschaft laß ich mir nicht wegschnappen! Du mußt nämlich wissen,