Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert). Walter Benjamin

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Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert) - Walter  Benjamin

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Seitdem hat er sich verändert«, sagte Clemency. »Er ist alt und grau geworden und ist durchaus nicht mehr derselbe Mann; aber ich meine, er hat jetzt einen Trost gefunden. Er hat sich seitdem mit seiner Schwester versöhnt und besucht sie oft. Das hat ihm gleich wohl getan. Anfangs war er sehr niedergedrückt, und das Herz konnte sich einem im Leibe umwenden, wenn man ihn herumwandern sah und auf die Welt schelten hörte. Aber nach einem oder zwei Jahren wurde er ein ganz Anderer und Besserer, und dann begann er, gern von seiner verlornen Tochter zu reden, und sie zu loben und auch die Welt! Und er ward nie müde, zu erklären, unter Tränen zu erklären, wie schön und wie gut sie gewesen. Er hatte ihr verziehen. Das war um die Zeit von Miß Graces Hochzeit. Du weißt noch, Britain?«

      Mr. Britain erinnerte sich der Geschichte noch sehr gut.

      »Die Schwester ist also verheiratet«, meinte der Fremde. Er schwieg einen Augenblick, bevor er fragte: »Mit wem?«

      Clemency hätte vor Überraschung über diese Frage beinahe das Teebrett umgeworfen.

      »Vernahmen Sie nie davon?« fragte sie.

      »Nie, ich möchte es aber wissen«, antwortete er und goß sich ein neues Glas ein, das er an die Lippen führte.

      »O, es wäre eine lange Geschichte, wenn man sie regelrecht erzählen wollte«, meinte Clemency und stützte ihr Kinn auf ihre linke Hand, indes sie den linken Ellbogen auf die andere Hand legte und kopfschüttelnd auf die inzwischen verflossenen Jahre zurückschaute, wie man in ein Feuer hineinschaut. »Es wäre eine lange Geschichte.«

      »Aber rasch erzählt?« forschte der Fremde.

      »Rasch erzählt«, wiederholte Clemency in dem gleichen nachdenklichen Ton und anscheinend ohne sich um ihn zu kümmern oder sich bewußt zu sein, daß sie Zuhörer habe, »was wäre da zu sagen? Daß sie gemeinsam bekümmert waren, ihrer gedachten wie einer Verstorbenen; daß sie sie in guter Erinnerung behielten, ihr keine Vorwürfe machten und sie zu entschuldigen wußten? Das weiß jeder. Ich zum mindesten weiß es, und niemand besser!« setzte Clemency hinzu und wischte sich die Augen mit der Hand.

      »Und dann«, half der Fremde ein – –

      »Und dann«, wiederholte Clemency mechanisch seine Worte, ohne ihre Haltung oder ihre Art zu ändern, »dann fanden sie sich schließlich als Mann und Weib. Sie wurden getraut an ihrem Geburtstag – er jährt sich morgen – in aller Stille, aber zufrieden und glücklich. Mr. Alfred sagte eines Abends, als sie im Obstgarten spazierten: ›Grace, soll unser Hochzeitstag auf Marions Geburtstag fallen?‹ Und so geschah es.«

      »Und sie leben glücklich zusammen?« fragte der Fremde.

      »Ja«, sagte Clemency. »Nie lebten Eheleute glücklicher. Sie haben keinen Kummer; nur diesen.«

      Sie hob das Haupt, als werde sie plötzlich gewahr, unter welchen Umständen sie an diese Geschehnisse zurückdenke, und warf einen schnellen Blick auf den Fremden. Da sie sah, daß er sein Gesicht dem Fenster zugekehrt hatte, als ob er in der Betrachtung der Aussicht versunken wäre, machte sie ihrem Mann ein paar rasche Zeichen, deutete auf den Anschlag und bewegte die Lippen, als habe sie sehr angelegentlich ein Wort oder einen Satz zu wiederholen. Da sie dabei keinen Laut hören ließ und ihre stummen Gesten wie gewöhnlich sehr verwundersam waren, so brachte dies rätselhafte Betragen Mr. Britain bis zum Rand der Verzweiflung. Er staunte den Tisch an, den Fremden, die silbernen Löffel, seine Frau – folgte ihren Mienen mit Blicken tiefen Erstaunens und größter Ratlosigkeit – fragte sie in der gleichen Sprache, ob sein Besitz oder er in Gefahr sei – beantwortete ihre Zeichen mit andern, die seine tiefste Betroffenheit zum Ausdruck brachten – verfolgte die Bewegung ihrer Lippen – riet halblaut »Milch und Wasser«, »Scheck«, »Maus und Walnuß« und konnte doch über nichts klar werden.

      Clemency gab zuletzt ihre aussichtslose Bemühung auf, rückte etwas näher an den Fremden heran und musterte ihn mit scheinbar gesenkten Augen scharf, während sie eine neue Frage erwartete. Sie brauchte nicht lange zu harren; denn er hob gleich wieder von neuem an.

      »Und was wurde später aus der Tochter, die ihn verließ? Sie kennen sie, meine ich?«

      Clemency schüttelte den Kopf. »Ich hörte«, sagte sie, »Doktor Jeddler solle mehr wissen als er zu wissen vorgebe. Miß Grace hat Briefe von ihr erhalten, in denen sie schreibt, daß es ihr gut gehe und daß sie durch ihre Heirat glücklich geworden sei. Sie hat ihr darauf geantwortet. Aber es schwebt ein Geheimnis über ihrem Leben und ihrem Geschick, das bis jetzt nicht aufgeklärt ist, und das –«

      Ihre Stimme wurde schwankend und sie stockte.

      »Und das –« fuhr der Fremde fort.

      »Das nur ein einziger Mensch aufklären könnte«, sagte Clemency atmend.

      »Und wer wäre das?« forschte der Fremde.

      »Mr. Michael Warden!« antwortete Clemency beinahe mit einem Schrei und bekundete damit zugleich ihrem Gatten, was sie ihm vorhin hatte deutlich machen wollen, und Michael Warden, daß er erkannt sei.

      »Sie kennen mich noch, Herr«, sagte Clemency, zitternd vor Erregung. »Ich sah es soeben! Sie kennen mich noch von der Nacht damals im Garten. Ich war bei ihr!«

      »Ja, ich weiß es«, entgegnete er.

      »Ja, Herr«, versetzte Clemency. »Ja, bestimmt. Das ist mein Mann, Herr. Ben, lieber Ben, lauf zu Miß Grace – laufe zu Mr. Alfred – lauf zu irgend jemandem, Ben! Hole irgend jemanden herbei, sogleich!«

      »Bleiben Sie!« sagte Michael Warden und trat gelassen zwischen die Tür und Britain. »Was wollen Sie anfangen?«

      »Geben Sie ihnen Nachricht, daß Sie hier sind, Sir«, bat Clemency und schlug die Hände zusammen, ganz außer sich vor Verwirrung. »Geben Sie ihnen Nachricht, daß sie aus Ihrem Munde mehr von ihr erfahren können; daß sie ihnen nicht ganz verloren ist, sondern daß sie wieder heimkommen wird, um ihren Vater und ihre Schwester – und auch ihre alte Dienerin, mich«, sie schlug sich mit beiden Händen auf die Brust, »mit dem Anblick ihres lieben Gesichts zu trösten. Eil’, Ben, eil’!« Und noch immer drängte sie ihn gegen die Tür, und noch immer stand Mr. Warden davor und versperrte ihm den Ausgang, nicht mit zorniger, sondern mit betrübter Miene.

      »Oder vielleicht«, sagte Clemency und hielt sich an Mr. Wardens Mantel, »vielleicht ist sie jetzt hier; vielleicht ist sie ganz nahe. Ja, ich merke es Ihnen an, sie muß hier sein. Bitte, Herr, lassen Sie mich zu ihr. Ich hütete sie, als sie noch ein kleines Kind war. Ich sah sie aufwachsen als Freude dieses Ortes. Ich kannte sie, als sie Mr. Alfreds Braut war. Ich versuchte sie zurückzuhalten, als Sie sie hinweglockten. Ich kenne ihr Vaterhaus, wie es war, als sie es noch beseelte, und wie es sich geändert hat, seitdem sie entfloh. Bitte, Herr, lassen Sie mich zu ihr!«

      Er sah sie mitleidig und erstaunt an, machte aber keine Geste der Einwilligung.

      »Ich glaube nicht, daß sie wissen kann«, erklärte Clemency, »wie aufrichtig sie ihr vergeben haben; wie sehr sie sie lieben; welche Freude es ihnen bereiten würde, sie noch einmal zu sehen. Sie scheut sich vielleicht, nach Hause heimzukehren. Ich kann ihr vielleicht Mut zusprechen, wenn sie mich erblickt. Nur sagen Sie mir, haben Sie sie mitgebracht?«

      »Nein«, sagte er kopfschüttelnd.

      Diese Antwort, sein Verhalten, sein Traueranzug, seine stille Rückkehr, die angekündigte Absicht, ins Ausland zu ziehen, offenbarten alles: Marion war tot.

      Er konnte ihr nichts entgegnen,

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