Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöf
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Читать онлайн книгу Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf - Selma Lagerlöf страница 60
»Aber vielleicht sind sie noch am Leben,« dachte der Hund plötzlich. »Sie waren ja noch nicht tot, als ich fortlief. Am Ende haben sie sich gerettet!«
Eine unwiderstehliche Lust wandelte ihn an, etwas hierüber zu erfahren, solange es für ihn noch Zeit war. Er merkte, daß der Waldhüter den Strick nicht besonders festhielt, machte einen raschen Sprung nach der Seite, und kam wirklich los. Darauf rannte er davon durch den Wald und hinab nach dem Moor, und zwar in einer solchen Fahrt, daß der Holzwärter keine Zeit hatte, die Flinte an die Wange zu legen, ehe er weg war.
Dem Holzwärter blieb nichts weiter übrig, als hinterher zu laufen, und als er an das Moor kam, sah er den Hund auf einem Grasbüschel einige Ellen vom Ufer entfernt stehen und aus Leibeskräften heulen. Der Holzwärter hielt es für seine Pflicht, nachzusehen, was das wohl bedeuten könne, er stellte die Flinte hin und kroch auf allen Vieren auf das Moor hinaus. Er war noch nicht weit gekrochen, als er eine Elchkuh sah, die im Moor lag und tot war. Dicht neben der Kuh lag ein kleines Kalb. Das war noch am Leben, war aber so ermattet, daß es sich nicht zu rühren vermochte. Karr stand neben dem Kalbe. Bald beugte er sich hinab und leckte es, bald stieß er ein lautes Geheul aus, um Hilfe herbeizurufen.
Der Holzwärter hob das Kalb auf und machte sich daran, es an Land zu schleppen. Als es dem Hund klar wurde, daß das Kalb gerettet werden würde, geriet er ganz außer sich vor Freude. Er sprang rund um den Holzwärter herum, leckte ihm die Hände und bellte vor Entzücken.
Der Holzwärter trug das Kalb nach Hause und setzte es in einen Stand im Stall. Dann mußte er Hilfe herbeiholen, um die tote Elchkuh aus dem Moor zu ziehen, und erst als das alles besorgt war, fiel ihm ein, daß er ja Karr erschießen sollte. Er rief den Hund, der ihm die ganze Zeit gefolgt war, und ging wieder mit ihm in den Wald.
Der Holzwärter schlug den Weg nach dem Hundegrabe ein, ehe er aber noch angelangt war, kam er auf andere Gedanken, denn plötzlich kehrte er um und ging auf den Herrenhof zu.
Karr war ihm ganz still gefolgt, als aber der Holzwärter umkehrte und nach seinem alten Heim ging, wurde er unruhig. Sicher hatte der Holzwärter ausfindig gemacht, daß er die Elchkuh umgebracht hatte, und nun sollte er nach dem Herrenhof, um seine Strafe in Empfang zu nehmen, ehe er starb.
Aber Prügel zu kriegen, war das Schlimmste, was Karr sich denken konnte, und bei dieser Aussicht vermochte er den Mut nicht aufrecht zu halten. Er ließ den Kopf hängen, und als er auf den Hof kam, sah er nicht auf, sondern tat so, als kenne er niemand.
Der Gutsbesitzer stand auf der Treppe, als der Holzwärter daherkam. »Was in aller Welt ist das für ein Hund, mit dem Sie da kommen, Holzwärter?« sagte er. »Es ist doch wohl nicht Karr? Der muß doch schon längst erschossen sein.« Da erzählte der Holzwärter von den Elchen, und Karr machte sich so klein, wie er nur konnte, und kroch hinter den Beinen des Holzwärters zusammen, als wolle er sich verstecken.
Aber der Holzwärter erzählte die Geschichte nicht so, wie Karr es erwartet hatte. Er konnte nicht genug Worte des Lobes für Karr finden. Er sagte, der Hund habe offenbar gewußt, daß die Elche in Not seien, und habe sie retten wollen. »Der Herr muß ja tun, was der Herr will, ich kann den Hund aber nicht totschießen,« schloß der Holzwärter seinen Bericht.
Der Hund erhob sich und spitzte die Ohren. Er wollte kaum glauben, daß er recht gehört hatte. Obwohl er ungern verraten wollte, wie bange er gewesen war, konnte er sich nicht enthalten, ein klein wenig zu bellen. War es wirklich möglich, daß er am Leben bleiben durfte, nur weil er um die Elche besorgt gewesen war?
Der Gutsbesitzer fand auch, daß Karr sich gut benommen hatte, da er ihn aber unter keinen Umständen wieder haben wollte, wußte er nicht gleich, was er sagen sollte. »Ja, wenn Sie sich seiner annehmen wollen, Holzwärter, und dafür einstehen wollen, daß er sich besser schickt als bisher, so mag er leben,« sagte er endlich. Dazu war der Holzwärter bereit, und so ging es zu, daß Karr zum Holzwärter kam.
Graufells Flucht.
Von dem Tage an, als Karr zum Holzwärter kam, ließ er die unerlaubte Jagd im Walde ganz nach. Nicht daß er bange geworden wäre, sondern vielmehr weil er nicht wollte, daß der Holzwärter böse auf ihn werden sollte. Denn seit der Holzwärter ihm das Leben gerettet hatte, liebte er ihn über alles in der Welt. Er hatte keinen anderen Gedanken, als ihm zu folgen und für ihn zu sorgen. Ging er aus, so lief Karr voraus und untersuchte den Weg, und saß er zu Hause, so lag Karr draußen vor der Tür und beobachtete jeden, der kam und ging.
Wenn im Holzwärterhäuschen alles still war, wenn man keinen Schritt auf dem Wege hörte, und Karrs Herr sich mit den kleinen Bäumen zu schaffen machte, die er im Küchengarten züchtete, vertrieb sich Karr die Zeit, indem er mit dem Elchkalb spielte.
Anfangs hatte Karr gar keine Lust, sich mit ihm abzugeben. Da er aber seinen Herrn überall hin begleitete, ging er auch mit ihm in den Stall hinaus, wenn der Holzwärter dem Elchkalb Milch gab; er saß dann vor dem Stand und sah das Kalb an. Der Waldhüter nannte das Kalb Graufell, denn er fand, es verdiene keinen feineren Namen, und darin stimmte Karr mit ihm überein. Jedesmal, wenn er das Kalb sah, meinte er, nie etwas gesehen zu haben, was so häßlich war und so schlecht zusammengesetzt. Es hatte lange schlackerige Beine, die wie ein Paar lose Stelzen unter dem Körper sahen. Der Kopf war groß und alt und runzelig, und immer hing er nach der einen Seite. Das Fell saß in Runzeln und Falten, als wenn es einen Pelz anbekommen hätte, der nicht für seinen Körper gemacht war. Es sah immer mutlos und mißmutig aus, aber, sonderbarerweise, richtete es sich schnell auf, sobald es Karr draußen vor dem Stand erblickte, als freue es sich, den Hund zu sehen.
Das Elchkalb wurde mit jedem Tag, der verging, elender, es wuchs nicht, und schließlich konnte es sich nicht einmal mehr aufrichten, wenn es Karr sah. Da sprang der Hund zu ihm in den Stand hinein, und auf einmal blitzte es in den Augen des Ärmsten auf, als sei ihm ein Herzenswunsch erfüllt. Von nun an kam Karr jeden Tag und besuchte das Elchkalb und verbrachte ganze Stunden damit, seinen Pelz zu lecken, mit ihm zu spielen und sich zu tummeln und es allerlei zu lehren, worüber Waldtiere Bescheid wissen müssen.
Und merkwürdig, von dem Tage an, als Karr auf den Einfall gekommen war, zu dem Elchkalb hineinzulaufen, fing es an zu gedeihen und zu wachsen. Und als es erst damit in Gang gekommen war, wuchs es in einigen wenigen Wochen so stark, daß es in dem kleinen Stand keinen Platz mehr hatte, sondern in ein Gehege geschafft werden mußte. Als es aber ein paar Monate in dem Gehege gewohnt hatte, waren seine Beine so lang geworden, daß es über den Zaun springen konnte, wenn es wollte. Da erhielt der Holzwärter Erlaubnis von dem Gutsbesitzer, eine hohe, große Hecke um das Kalb zu errichten. Dort lebte der Elch mehrere Jahre und wuchs zu einem großen, stattlichen Hirsch heran. Karr leistete ihm Gesellschaft, sooft er konnte, aber jetzt geschah das nicht mehr aus Mitleid, sondern weil eine warme Freundschaft zwischen den beiden entstanden war. Der Elch war noch immer niedergeschlagen und schien schlaff und träge zu sein, aber Karr verstand die Kunst, ihn munter und lebhaft zu machen.
Graufell war fünf Sommer im Holzwärterhäuschen gewesen, als der Gutsbesitzer von einem zoologischen Garten im Ausland einen Brief mit der Frage erhielt, ob er den Elch verkaufen wolle. Das wollte er gern. Der Holzwärter war betrübt, aber es konnte ja nichts nützen, daß er nein sagte, und so wurde denn beschlossen, daß Graufell verkauft werden sollte. Karr erhielt bald Wind von dem, was bevorstand und eilte zu dem Elch hinaus, um ihm zu erzählen, daß man die Absicht habe, ihn wegzuschicken. Der Hund war unglücklich, daß er Graufell verlieren sollte, der aber blieb ganz ruhig und schien weder froh noch traurig zu sein. »Willst du dich gar nicht dagegen auflehnen, weggeschickt zu werden?«