Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöf
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Читать онлайн книгу Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf - Selma Lagerlöf страница 58
Die Gänse hatten die Omberger Gegend nun hinter sich gelassen und flogen gen Osten am Götakanal entlang. Der war auch dabei, sich für den Sommer zurecht zu machen. Da gingen die Arbeiter umher und besserten die Kanaldämme aus und teerten die großen Schleusenpforten.
Ja, überall wurde gearbeitet, um den Lenz gut zu empfangen, auch in den Städten. Da standen Maler und Maurer auf Gerüsten vor den Häusern und machten sie fein. Die Dienstmädchen standen in den offenen Fenstern und putzten die Scheiben blank. Unten am Hafen machte man Segelboote und Dampfer sauber.
Bei Norköping verließen die wilden Gänse die Ebene und flogen über Kolmården. Sie waren eine Weile an einer alten, hügeligen Landstraße entlang geflogen, die sich an Schluchten und unter wilden Bergwänden hinschlängelte, als der Junge plötzlich einen Schrei ausstieß. Er hatte dagesessen und mit dem einen Bein geschlenkert, und einer von seinen Holzschuhen war ihm abgefallen.
»Gänserich, Gänserich, ich hab’ meinen Schuh verloren!« schrie der Junge.
Der Gänserich kehrte um und schwebte zur Erde hinab, aber da sah der Junge, daß zwei Kinder, die des Weges daher kamen, seinen Schuh gefunden hatten.
»Gänserich, Gänserich,« schrie der Junge schnell, »flieg wieder hinauf! Es ist zu spät. Ich kann meinen Schuh nicht wieder bekommen.«
Aber unten auf dem Wege standen das Gänsemädchen Aase und ihr Bruder, der kleine Mads, und betrachteten einen winzig kleinen Holzschuh, der vom Himmel herabgefallen war.
»Den haben die wilden Gänse verloren!« sagte der kleine Mads.
Das Gänsemädchen Aase stand lange still und sann über den Fund nach. Schließlich sagte sie ruhig und nachdenklich: »Weißt du wohl noch, kleiner Mads, als wir am Övedkloster vorbeikamen, hörten wir davon reden, daß sie auf einem Bauerhof einen Kobold gesehen hatten, der lederne Hosen angehabt hatte und Holzschuhe an den Füßen, ganz wie ein Arbeitsmann? Und weißt du noch, als wir nach Vittskövle kamen, erzählte ein kleines Mädchen, sie habe einen alten Kobold mit Holzschuhen gesehen, der sei auf dem Rücken einer Gans davongeflogen? Und als wir selber nach unserm Hause heimkehrten, kleiner Mads, da sahen wir ja einen Wicht, der so gekleidet war, und der auch auf eine Gans hinaufkroch und davonflog. Vielleicht war das derselbe, der jetzt da oben in der Luft auf seiner Gans geritten kam und seinen Holzschuh verlor?«
»Ja, so ist es gewiß,« sagte der kleine Mads.
Sie drehten und wendeten den Holzschuh und untersuchten ihn genau, denn nicht jeden Tag findet man den Holzschuh eines Koboldes auf der Landstraße.
»Warte einmal, kleiner Mads, warte einmal!« sagte das Gänsemädchen Aase. »Hier auf der einen Seite steht ja etwas zu lesen.«
»Ja, da steht etwas. Aber die Buchstaben sind so klein!«
»Laß mich einmal sehen! Ja, da steht… Da steht: Niels Holgersen aus W.-Vemmenhög.«
»Das ist doch das merkwürdigste, was ich jemals gehört habe,« sagte der kleine Mads.
XXI. Die Geschichte von Karr und Graufell
Kolmården.
Nördlich von Bråviken, gerade auf der Grenze zwischen Ostgotland und Sörmland, erhebt sich ein Berg, der mehrere Meilen lang und über eine Meile breit ist. Hätte er eine Höhe, die seiner Länge und Breite entspräche, so würde er der schönste Berg sein, den man sich denken kann; aber die hat er nicht.
Es kann zuweilen geschehen, daß man ein Gebäude antrifft, das von Anfang an so groß angelegt ist, daß sein Besitzer es nicht hat vollenden können. Wenn man ganz nahe herankommt, sieht man dicke Grundmauern, starke, gewölbte Bogen und tiefe Keller, aber da sind weder Mauern noch Dach; das Ganze erhebt sich nur einige Fuß hoch über der Erde. Man kann fast nicht umhin, beim Anblick dieses Berges an so ein verlassenes Gebäude zu denken, denn es sieht fast so aus, als sei er bestimmt, mächtige, hohe Berghallen zu tragen. Alles ist gewaltig und jedes ist groß angelegt, aber es hat keine rechte Höhe oder Haltung. Der Baumeister ist müde geworden und hat die Arbeit aufgegeben, ehe er dazu gelangt war, die steilen Felsklippen und die spitzen Gipfel und scharfen Abhänge aufzuführen, die sonst als Mauern und Dach auf den fertiggebauten Bergen stehen.
Aber gleichsam als Ersatz für Klippen und Kuppen ist der große Berg zu allen Zeiten mit hohen, mächtigen Bäumen bedeckt gewesen. Eichen und Linden an den äußeren Rändern und in den Talschluchten, Birken und Erlen um die Seen herum, Fichten oben auf den steilen Absätzen und Tannen überall, wo sie nur eine Handvoll Erde finden, in der sie wachsen können. Alle diese Bäume im Verein bildeten einen großen Wald, den Kolmård, der in alten Zeiten so gefürchtet war, daß jeder, der ihn notgedrungen durchwandern mußte, sich Gott empfahl und sich darauf vorbereitete, daß seine letzte Stunde gekommen sei.
Es ist jetzt so lange her, seit der Kulmård ein Wald wurde, daß es unmöglich ist, zu sagen, wie es kam, daß er so ward, wie er wurde. Er hatte sicher zu Anfang eine schwere Zeit auf dem harten Berggrund, und er wurde abgehärtet, weil er gezwungen war, sich festen Fuß zwischen nackten Felsklippen und Nahrung aus magerem Kies zu suchen. Es erging ihm wie so manch einem, der in jungen Tagen Böses leiden muß, aber groß und stark wird, wenn er heranwächst. Als der Wald ausgewachsen war, hatte er Bäume, die drei Klafter im Umkreis waren, die Zweige der Bäume waren zu einem undurchdringlichen Netz zusammengeflochten, und die Erde war mit harten, glatten Baumwurzeln durchwoben. Er war ein vorzüglicher Aufenthaltsort für wilde Tiere und Räuber, die wußten, wie man kriechen und klettern und sich winden mußte, um sich einen Weg durch das Dickicht zu bahnen. Aber für andere besaß er keine besondere Anziehungskraft. Er war dunkel und kalt, wegelos und irreleitend, dicht und stechend, und die alten Bäume mit ihren bärtigen Zweigen und moosbewachsenen Stämmen glichen Kobolden.
In der ersten Zeit, als die Leute begannen, sich in Sörmland und Ostgotland niederzulassen, war da fast überall Wald, aber in den fruchtbaren Tälern und den Ebenen wurde er bald ausgerodet. Niemand dahingegen machte sich etwas daraus, im Kolmård, der auf magerem Berggrund wuchs, zu fällen. Aber je länger er Erlaubnis erhielt, unberührt zu stehen, um so stärker wurde er. Er war wie eine Festung, deren Mauern von Tag zu Tag dicker wurden, und wer durch die Waldmauer hindurch wollte, der mußte eine Axt zu Hilfe nehmen.
Andere Wälder sind oft bange vor den Menschen, vor dem Kolmård aber mußten die Menschen bange sein. Er war so dunkel und so dicht, daß Jäger und Besenbinder sich einmal über das andere darin verirrten und nahe daran waren umzukommen, ehe es ihnen gelang, sich aus der Wildnis herauszuarbeiten. Und für die Reisenden, die gezwungen waren, von Ostgotland nach Sörmland, oder umgekehrt, zu ziehen, war der Wald geradezu lebensgefährlich. Sie mußten sich mühselig auf schmalen Wildpfaden vorwärtsarbeiten, denn die Grenzbevölkerung war nicht einmal imstande, einen gebahnten Weg durch den Wald instand zu halten. Da waren weder Brücken über die Bäche noch Fähren über die Seen oder Dämme über die Moore. Und im ganzen Walde war auch nicht eine Hütte, in der friedliche Leute wohnten,