Th. M. Dostojewsky: Eine biographische Studie. Nina Hoffmann

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Th. M. Dostojewsky: Eine biographische Studie - Nina Hoffmann

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revolutionärer, atheistischer Anschauungen einer unter harter Despotie seufzenden Intelligenz vermittelt. Äusserungen, deren Intensität im Gegensatze zu den sie hervorrufenden Zuständen, es fast als litterarische Pikanterie geniesst.

      Aber mit der eigentümlichen Erscheinung eines Dichters, der zugleich lebensvoll (nicht asketisch wie Tolstoi) und mystisch religiös, der durchaus demokratisch und dabei durchaus konservativ ist, wissen wir nichts anzufangen.

      Dostojewsky ist, wenn nicht der einzige, so doch der grösste Repräsentant dieser merkwürdigen Konstellation, und wir müssen die scheinbaren Widersprüche, die darin liegen, in der Grösse seines Genies und seines Herzens auflösen und etwa so ansehen, wie wir die Widersprüche der Natur ansehen, welche Tag und Nacht, Ost und West mit einem grossen Ringe umspannt. Vor allem dürfen wir Dostojewsky nicht litteraturmässig auffassen, sondern als einen grossen, seelenbewegenden Schöpfer „in einem ungeheuern Reich, mit einem ungeheuern Willen“. Unter uns hört man oft den Ausspruch: „Dostojewsky ist ein grosser Künstler, aber sein mystisches Christentum ist sehr störend“. So angesehen zerfällt sein Bild sofort in einzelne Teile. Man muss vielmehr sagen: er ist ein Apostel des Glaubens an die Mission der Volksseele, an die Läuterung auch Europas durch das russische Volk, und er kann, vermöge seines unvergleichlichen Dichtergenius, seine Wahrheiten nicht anders hinausrufen, als in Werken von hohem künstlerischen Werte.

      So gefasst bleibt uns seine Erscheinung eine Einheit, die wir in allen seinen Werken wiederfinden, so fest und kompakt wie etwa ein Urgestein, das bei dem kleinsten Bruch dieselbe Krystallgestalt zeigt.

      Wir werden also vor allem diese ethische Einheit im Auge haben, wenn wir es versuchen, an der Hand lückenhafter russischer Biographieen, sowie des Materials, das uns seine Tagebücher, die Aufzeichnungen seiner Gattin, seiner Freunde und Mitarbeiter und vor allem seine Werke vermitteln, ein, soweit es möglich ist, getreues Bild seines Lebens und Wirkens einem deutschen Leserkreis zu geben.

      Ehe wir aber das biographische Material ausgestalten, müssen wir einige Vorbemerkungen über das Milieu einschalten, dem der Dichter entsprossen ist.

      Wenn wir nämlich die Werke französischer, englischer, italienischer, kurz europäischer Schriftsteller lesen, so bringen wir ihrem Milieu so viel Kenntnis und Anpassungsvermögen entgegen, dass wir ohne weiteres sagen, der oder jener schildere die Menschen so oder so. Lesen wir indes russische Werke, so ist unser Urteil steuerlos; wir sehen ein fremdartiges, uns sehr unbequemes Milieu und darin — einen Russen, den wir uns erst in unser Menschliches übersetzen müssen, wobei wir oft unsere liebe Not haben. Das hat seine tiefe Bedeutung. Wir haben da wohl mit Halbbarbaren zu thun, aber mit jungen, ungebrochenen Kräften, mit einem Volke, das wir erst kennen lernen, demgegenüber wir manches „umlernen“ müssen.

      Allerdings kann ein Nichtrusse, namentlich, wenn er sich nicht eine lange Zeit im Lande selbst umgesehen hat, kein lebendiges und ganz zutreffendes Bild von Russland und seinem Volke entwerfen. Lässt ja Dostojewsky selbst in einem seiner Romane zwei gute Patrioten ein Gespräch miteinander führen, in dem der eine ungefähr sagt: „Der M. N. giebt vor, zu wissen, was Russland ist — ja wissen wir es denn selbst?“

      Nun aber kann ein Fremder, der sich die Sprache so zu eigen gemacht, dass er ihre intimen Nüancen, die familienhafte Unmittelbarkeit ihrer Laute nachempfindet, ein solcher Fremder kann wohl mit frischem Blicke und ganz unbefangen gewisse Hauptmerkmale der Volksseele, die diese Sprache ausdrückt, gewahr werden. Dies ist hier um so leichter der Fall, als alles Russische ein so durchaus uneuropäisches Gepräge an sich trägt.

      Was uns als ein durch alle Schichten dieses Volkes gehender Zug vor allem auffallen muss, ist die familienhafte Zusammengehörigkeit und Brüderlichkeit aller mit allen. Dies drückt sich schon in der Sprache aus: Väterchen, Mütterchen, du mein Verwandter, oder: du meine Verwandte sind die gebräuchlichsten Formen der Anrede. Dieses Familiengefühl geht von unten hinauf, nicht umgekehrt, allein das ist es, was ihm ewige Dauer sichert. Dadurch, dass der Sprachgebrauch in der direkten Anrede keine Titel und keinen Geschlechtsnamen, nur Taufnamen mit dem höflichen Zusatz des Vatersnamens zulässt, geht eine, wenigstens formale Intimität durch die ganze Nation, von welcher sich kein modern „demokratisches“ Volk etwas träumen lässt. Nicht nur der Bauer, sondern auch der Hoflakai führt für den Kaiser oder Grossfürsten keine andere Benennung oder Anrede im Munde als etwa: „Nikolai Alexandrowitsch, Helene Pawlowna lässt Euch bitten“ oder ähnliches. Für das Volk ist diese Form eine intime Herzenssache, für die „Gesellschaft“ hat sie nur den Wert einer patriarchalischen Reminiscenz, und das Volk selbst als „Brüder“ zu betrachten, ja einen wie immer beschaffenen Massstab an seine Leiden und Freuden zu legen, hat die Gesellschaft der oberen Zehntausend bis heute noch nicht geträumt. Darin liegt wohl, wie es scheint, die scharfe Trennung der konservativen russischen Kreise von den neueren liberalen. Allerdings wachsen auf diesem Gebiete Missverständnisse wie die Disteln empor. Denn, indem sich viele energische Liberale nicht auf die Vermenschlichung ihrer Beziehungen zum Volke, auf den guten Einfluss der Bildung allein beschränken, die sie diesem hochintelligenten, aber in tiefe, abergläubische Religiosität eingesponnenen Kinde vermitteln, so fallen ihnen andere Wohlmeinende in die Hände, welche von der Vernichtung der Unwissenheit und des Aberglaubens auch jene des Glaubens und der Ehrfurcht befürchten; so wird die Beziehung der Intelligenz zum Volke in ein Gebiet übergeleitet, das sich von den ursprünglichen Absichten allmählich und unbemerkt entfernt.

      Ein anderer Zug, welcher durch alle Schichten des russischen Volkes geht (die Gesellschaft als solche aus dem Spiel gelassen), ist eine Fähigkeit zum Leiden und Mit-Leiden, das sich auf den Schuldigen und Verbrecher erstreckt. Auch hier giebt uns die Sprache bedeutsame Fingerzeige; das Volk nennt jeden Verbrecher einen „Unglücklichen“, und die Sprache selbst, welche für das Menschliche drei Ausdrücke streng unterscheidet, nämlich: „Menschlich“, „Allgemeinmenschlich“ und „Allmenschlich“, sie hat für die Nüancen der Schuld, die wir dreifach besitzen: „Übertretung“, „Vergehen“, „Verbrechen“, ausser dem Worte Schuld nur das eine Wort „Übertretung“ (Prestupljenie).

      Wir sehen hier, dass wir es mit etwas anderem zu thun haben, als mit unserem europäischen Mitleid, das die Franzosen unter anderem „une fonction purement cérébrale“ nennen, eine reine Gehirnangelegenheit, im Gegensatze zur allmächtigen und allberechtigten „passion“. Hier ist eine Kluft zwischen den Ausgangspunkten der ethischen Anschauungen von Ost und West, die man nicht ernst genug betrachten kann.

      Ein anderer auffallender Zug der russischen Natur ist die mit tiefer Religiosität verbundene Demut des Russen, die auch da erhalten bleibt, wo, wie in den Kreisen der dem Westen nachstrebenden Intelligenz, jede Spur von Glauben gewichen ist. Der Russe ist sehr schnell bereit, sein Unrecht einzusehen und auch einzugestehen, sowie sich um deswillen vor Freund und Feind zu demütigen oder anzuklagen. Da nun ein solcher Einsichtswechsel bei seiner nervösen, grübelnden und immerfort „die Wahrheit“ suchenden Natur sehr oft vorkommt, so bietet er uns Westländern, die wir Dekadenten, d. h. mit unseren Gebrechen kokettirende Menschen sind, ein Bild feiger Selbsterniedrigung. Denn der Westen versteht heute zumeist unter dem Begriff „Charakter haben“, dass man nichts verzeihen und nichts zugeben solle, und es ist ihm um viel realere Güter zu thun, als um die bei den Russen in jeder Lebenslage auftauchende Sorge und Frage „wie soll mein Leben sein?“

      Ein dritter, hervorstechender Zug, der uns bei dem Russen auffällt, ist das, was wir Deutsche Unzuverlässigkeit, Unpünktlichkeit, Regellosigkeit nennen müssen. Wenn man die Unmöglichkeit erprobt hat, ein echtes Kind der russischen Erde zu einer festgesetzten Zeit an einen bestimmten Ort zu bekommen, oder in seinem Hause, seiner Tageseinteilung auch nur das geringste System oder die geringste Ordnung zu finden oder zu schaffen, so möchte man fast das bekannte Sprichwort erweitern und sagen: „Dem Glücklichen, sowie dem Russen, schlägt keine Stunde“. Russen können zu jeder Stunde des Tages ihr Lager aufsuchen, wenn sie etwa verstimmt sind, zu jeder Stunde der Nacht Thee trinken und Freunde besuchen. (Dabei spielt wohl der Einfluss der hellen, den Schlaf

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