Th. M. Dostojewsky: Eine biographische Studie. Nina Hoffmann
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„Der Wolf kommt,“ schrie ich atemlos.
Er wendete den Kopf und sah sich unwillkürlich ein wenig im Kreise um, mir einen Augenblick fast glaubend.
„Wo ist der Wolf?“
„Man hat gerufen ... jemand hat eben gerufen: der Wolf kommt,“ stammelte ich.
„Was sagst du, was sagst du, was für ein Wolf — geschienen hat es dir, geh! Was soll hier für ein Wolf sein!“ murmelte er, mich beruhigend. Allein ich zitterte noch immer und klammerte mich noch fester an seinen Zipun und muss sehr blass gewesen sein. Er sah mich mit einem beunruhigten Lächeln an und war offenbar um mich in Angst und Sorge.
„Geh, schau, bist erschrocken, aj, aj!“ sagte er kopfschüttelnd. „Genug, mein Trauter. Geh, Kleiner, aj!“
Er streckte die Hand aus und streichelte mir plötzlich die Wange.
„Nu, genug doch, nu, Christus ist mit dir, mach das Kreuz.“ Allein ich bekreuzte mich nicht; meine Mundwinkel zuckten und das scheint ihn besonders ergriffen zu haben. Er streckte seinen dicken, mit Erde beschmutzten Daumen mit dem schwarzen Nagel leise aus und berührte damit ganz leise meine zuckenden Lippen.
„Geh doch, aj,“ lächelte er mich mit einem mütterlichen, auf seinen Lippen verweilenden Lächeln an. „Herrgott, was ist denn das, geh doch, aj, aj!“
Ich begriff endlich, dass kein Wolf da war, und dass mir etwas wie ein Schrei „der Wolf kommt“ nur so geklungen hatte. Der Schrei war übrigens sehr laut und deutlich gewesen, allein solche Schreie (nicht nur von Wölfen) hatte ich schon früher ein- oder zweimal zu vernehmen geglaubt und ich wusste davon. (Später vergingen diese Hallucinationen mit den Kinderjahren.)
„Nun werde ich gehen,“ sagte ich fragend und schaute ihn furchtsam an.
„Geh du nur, ich werde dir schon nachschauen. Ich werde dich schon dem Wolf nicht geben!“ fügte er hinzu, indem er mir immer noch mütterlich zulächelte, „nu, Christus sei mit dir, nu geh,“ und er machte das Zeichen des Kreuzes über mich, dann über sich selbst.
Ich ging weiter und schaute mich fast bei jedem zehnten Schritte um. Marej blieb, so lange ich ging, mit seinem Pferdchen immer da stehen und schaute mir nach, mir, so oft ich mich umsah, mit dem Kopfe zunickend. Offen gestanden schämte ich mich ein wenig vor ihm, darüber, dass ich solche Furcht gehabt hatte, allein sie erfasste mich auch im Gehen noch hie und da, ehe ich nicht zur ersten Riege des Abhanges gelangt war. Hier verliess mich die Angst schon ganz; und plötzlich, wie vom Boden heraus, sprang mir unser Hofhund Wölfchen entgegen. Mit ihm an meiner Seite wurde ich schon ganz mutig und wendete mich zum letzten Male nach Marej um. Sein Gesicht konnte ich nicht mehr genau unterscheiden, aber ich fühlte, dass er mich noch immer mit demselben zärtlichen Lächeln ansah und mit dem Kopfe nickte. Ich winkte ihm mit der Hand, auch er winkte mir zu und dann trieb er sein Pferdchen an.
„Nu, nu!“ hörte man in der Ferne wieder seinen Zuspruch, das Pferdchen zog wieder an seiner Pflugschar. —
Als ich damals von Marej nach Hause kam, erzählte ich niemand mein Erlebnis. Ja, was war es denn auch für ein Erlebnis? Auch Marej habe ich damals sehr bald vergessen. Wenn ich ihn später seltene Male traf, so sprach ich gar nie mit ihm, weder vom Wolf, noch überhaupt. Und plötzlich jetzt, zwanzig Jahre später in Sibirien, fiel mir diese ganze Begegnung mit einer solchen Klarheit, bis in das kleinste Detail ein. Das heisst also, dass sie sich in meine Seele festgesetzt hatte, unbewusst, ganz allein und ohne meinen Willen, und plötzlich ist sie dann aufgetaucht, wann sie nötig war.
Es tauchte dieses sanfte, mütterliche Lächeln des armen leibeigenen Bauern in mir auf; seine Kreuze, sein Kopfschütteln, sein „Geh schon, bist erschrocken, Kleiner!“ Und besonders sein dicker, mit Erde beklebter Finger, mit welchem er still und mit sanfter Zärtlichkeit meine zuckenden Lippen berührt hatte. Gewiss hätte ein jeder einem kleinen Kinde Mut zugesprochen, allein hier in dieser einsamen Begegnung geschah etwas von gleichsam ganz anderer Art, und wenn ich sein leiblicher Sohn gewesen wäre, so hätte er mich nicht mit einem von hellerer Liebe leuchtenden Blicke ansehen können — wer aber hat ihn dazu genötigt? Er war unser eigener Höriger, ich aber war immerhin sein junges Herrchen; das hätte niemand erkannt, als er mich streichelte und mich es nicht fühlen liess. Liebte er etwa so sehr die kleinen Kinder? Solche giebt es. Die Begegnung war in völliger Abgeschiedenheit erfolgt, auf einem öden Feld, und nur Gott sah vielleicht von oben, mit welchem tiefen und heiligen Menschheitsgefühl, und mit welcher feinen, fast weiblichen Zartheit das Herz manches groben, tierisch unwissenden, leibeigenen russischen Bauern erfüllt sein kann, eines solchen, der seine Befreiung auch nicht einmal erwartete, nicht ahnte. — Sagt mir, ist es nicht das, was Konstantin Aksakow verstand, als er von der hohen Bildung unseres Volkes sprach?
Und sieh da, als ich von meiner Pritsche herunterstieg und mich rings umsah, da, ich erinnere mich dessen, fühlte ich plötzlich, dass ich mit ganz anderen Blicken auf diese Unglücklichen zu schauen vermochte, und dass mit einem Male, wie durch ein Wunder, jeder Hass und jeder Zorn in meinem Herzen ausgelöscht war. Ich ging umher und schaute in die Gesichter der mir Begegnenden. Jener geschorene und entehrte Bauer, gebrandmarkt, berauscht, der da sein betrunkenes heiseres Lied brüllte, das kann ja ebenfalls der nämliche Marej sein; ich kann ja nicht in sein Herz hineinschauen.“
Bald nach dem Tode der Mutter gelangte zu den Jünglingen die Nachricht vom tragischen Ende Puschkins. Hätten sie nicht schon Trauergewänder getragen, so hätten sie um die Erlaubnis gebeten, solche nach Puschkin anlegen zu dürfen. In jedem Falle verabredeten sie sich auf der Reise nach Petersburg, sofort nach ihrer Ankunft den Ort aufzusuchen, wo das Duell stattgefunden, und die Stube, wo der Dichter seinen Geist ausgehaucht hatte.
Diese Fahrt in langen Tagereisen, mit unterlegten Pferden und wechselnden Fuhrleuten, war reich an Hoffnungen und poetischen Stimmungen, namentlich des älteren Bruders, der: „täglich etwa drei Gedichte machte, auch unterwegs“ —, wie Theodor in seinem Tagebuche 1876 erzählt. Er selbst dachte wohl ebenfalls nicht an die Aufnahmeprüfung in der Mathematik: er deklamierte, disputierte und ereiferte sich über poetische Fragen, hatte aber doch offene Sinne für alles, was um ihn her vorging. So machte ihm eine Scene Eindruck, die er vom Fenster des Einkehrhauses eines kleinen Dorfes beobachtete. Es war an das Stationsgebäude eine Kurier-Trojka herangeflogen, ein betresster und befiederter Feldjäger sprang herab, trank ein Gläschen Schnaps und schwang sich auf die Telega zurück, wo indessen der neue Kutscher, ein junger Bursche, ein neues armseliges Dreigespann angebracht hatte. Kaum hatte sich dieser Junge auf seinen Platz geschwungen, als der Feldjäger aufstand und ihm ohne jegliche Erregung, ohne ein Wort zu reden, mit der Faust einen wuchtigen Hieb in den Nacken verabfolgte. Unmittelbar darauf setzte der Kutscher diesen Hieb in einen Knutenstreich auf die Pferde um. Das wiederholte sich so lange, als der Zuschauer das Gefährt nicht aus dem Auge verlor, so dass gleichsam aus jedem Faustschlag, wie durch eine Feder geschnellt, der Knutenhieb hervorsprang. Dostojewsky erwähnt in späten Jahren diese Begebenheit gelegentlich eines Artikels über den Petersburger Tierschutzverein, dem er diesen Vorgang als Emblem auf das Petschaft gravieren lassen möchte.
Die Trennung vom Hause und dem Bruder ruft die erste Korrespondenz hervor. Wir finden darin die erste reale Misère um einiger Kopeken willen und den ersten philosophischen Weltschmerz, der sich jedoch schon in der, Dostojewsky eigentümlichen, mystischen Weise ausdrückt. So sagt er in einem Briefe an den Bruder: „Ich weiss nicht, ob meine traurigen Gedanken je verstummen werden — mir scheint unsere Welt ist ein Fegefeuer himmlischer Seelen — die ein sündiger Gedanke verwirrt hat — aus der