Tägliches Befremden. Reingard Dirscherl
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Als ich wieder auf dem Migrationsamt vorsprach, um endlich alle Unterlagen abzugeben, die ich aus Wien hatte kommen lassen, war das neue Integrationsgesetz in Kraft getreten. Das hatte zur Folge, dass ich noch den Nachweis erbringen musste, über ausreichende Deutschkenntnisse zu verfügen. Waren sie völlig übergeschnappt? Sie hörten doch, dass ich Deutsch sprach. Sie konnten aus meinem Lebenslauf entnehmen, dass ich in Basel zur Schule gegangen war, hier mein Studium abgeschlossen hatte und obendrein als Deutschlehrerin arbeitete. Wussten sie nicht, dass in Österreich unter anderem ebenfalls Deutsch gesprochen wurde? Die Dame zeigte Verständnis für meine Verwirrung und lächelte. Sie drückte mir trotzdem die Unterlagen mit den Testterminen in die Hand. Kosten pro Deutschtest: 150 Franken.
Bevor ich bei der kantonalen Prüfungsinstanz landete, hatte der Beamte persönlich an meinem Arbeitsplatz nachgefragt, ob jemand etwas gegen meine Einbürgerung einzuwenden hätte, und sich bei einer Schweizer Freundin über mich erkundigt. Sie weilte gerade in Sansibar und schrieb über mich: «Ich kenne sie seit Mitte der Achtzigerjahre, und ich kann sagen, dass sie genauso schweizerisch ist wie ich. Sie verbrachte den Großteil ihres Lebens in Basel und trägt mit ihrer engagierten Arbeit zu wichtigen sozialen Anliegen unserer Stadt und unseres Landes bei.» Meine Freundin ist als Schweizerin auf die Welt gekommen, hat aber einen Großteil ihres Lebens im Ausland verbracht.
Dann folgte mein großer Tag. Ich war eingeladen zu einem Gespräch im Stadthaus, einem prunkvollen Bau in der Altstadt von Basel. Im weiträumigen Vorzimmer nahm ich Platz und fühlte mich sofort zu Hause. Mir gegenüber wartete eine dunkelhäutige Mutter mit ihrem festlich gekleideten Sohn. Ich betrat den Saal. Mehrere Personen waren anwesend. Ein Herr führte die Befragung durch: «Sie sind Frau … aus Österreich. Sie möchten Schweizerin werden, warum erst jetzt?» Gerade als ich zur Antwort ansetzen wollte, schrillte sein Mobiltelefon. Der Befrager fingerte am Gerät herum, unterdrückte den Ton und wiederholte nochmals die Frage, auf die ich mir mittlerweile die Antwort zurechtgelegt hatte. «Um es kurz zu machen», begann ich, «ich wohne hier, ich arbeite hier, ich habe meine Freunde hier, ich integriere andere und sie integrieren mich laufend. Ich bin schon längst angekommen. Es fehlt nur noch die Anerkennung meiner politischen Mündigkeit.»
Die Befragung war simpel. Nichts, was man nicht der beigelegten Broschüre zur Vorbereitung hätte entnehmen können. Dennoch verwechselte ich den Ort des Bundesgerichts. Lausanne und Luzern klingen doch irgendwie ähnlich. Dann war alles vorbei. Den Sprachnachweis hatte ich durch ein anderes Dokument umgehen können.
Ich bin jetzt Schweizerin und Österreicherin. Auch die Ausländerin gehört dazu. Sie lässt sich nicht mehr wegschicken und schützt mein neu erworbenes Gut wie eine wetterfeste Plane. Beide Nationalitäten können sich darunter verstecken und sind nicht mehr allein. Wir streiten oft und heftig, besonders, wenn die eine die andere auf Vergangenes festnageln will, doch wir haben uns aneinander gewöhnt. Wir sind Kaiser und uns selbst untertan. Wir kennen uns zu gut, um uns nicht zu befremden. Der Blick aufeinander ist liebevoll, doch illusionslos. Was den Humor betrifft, werden wir wohl nie zueinander finden.
Mein Opium
Le sang blanc coule épais du pavot de sa tête. Il le recueille à pleines mains. Et le sang rouge en bas lui trace les chemins au bout desquelles la mort à l’épouser s’apprête.1
Er sieht mitgenommen aus, der Katalog zu Opium. Die Texte sind mit Fragezeichen oder Pfeilen und Anmerkungen versehen. So wirken sie auf mich verlässlich. Für wichtige Zahlen baue ich Eselsbrücken und verankere sie so im Gedächtnis. Manchmal dient mir ein Spickzettel. Wie oft war ich im Museum und habe mir die Opiumpfeifen angesehen, da ich die Exponate im Ausstellungsführer nicht erkennen konnte. Fokussierende Schärfe auf ein Detail ist das Markenzeichen des Hausfotografen. Der Rest verschwimmt im Nebel. Die Aufnahme gestattet der Betrachterin nur einen Blick. Der zweite bleibt verwehrt und lockt so zu den Dingen. Um diese zu erkennen, genügt es nicht, sie abzubilden. Das Auge will schweifen. Der Geist will sich mit ihnen auseinandersetzen.
Neben dem Ausstellungskatalog liegt ein Roman über die Vorgeschichte der Opiumkriege in China. In Das mohnrote Meer beschreibt Amitav Gosh die Monopolisierung des indischen Mohnanbaus durch die East India Company. Ich notiere mir den Namen Jardine & Matheson. Die britische Firma ist durch Opiumhandel und Zwangsarbeit reich geworden. Die Website des heute noch existierenden Unternehmens mit Sitz auf den Bermudas zeigt, dass es sich um einen weltweit tätigen Konzern handelt. Er verschiebt Autos, Schiffe, sogar Immobilien, nur kein Opium mehr. Zur Imagepflege fließen Gelder in wohltätige Zwecke. Ein Paradebeispiel, wie während des Kolonialismus erwirtschaftete Erträge postkolonial geschönt weiterwirken und Milliarden umsetzen.
Etwas später verwies mich die Geschichte über den Anbau von Opium in andere geografische Regionen. In Afghanistan fanden die Machenschaften um Einfluss und Gewinn im 20. Jahrhundert ihre Fortsetzung. Die Opiumproduktion vor Ort soll während des Kalten Krieges durch die CIA initiiert worden sein.2
Als ich mehr über die Pflanze wissen wollte, fand ich heraus, dass nährstoffreiche Lehmböden sich günstig auf ihr Wachstum auswirkten und weiße Samen den besten Ertrag lieferten. Im Botanischen Garten der Stadt sah ich dem Schlafmohn beim Wachsen zu.
Mohnöl bekam einen festen Platz in meiner Küche, und ich versuchte mich, dank eines Rezepts meiner Großmutter, an Mohnpotizen, einem Gebäck aus zerstoßenen Mohnsamen und Germteig. Beim Aufräumen auf dem Estrich stieß ich auf ein verstaubtes Gemälde. Meine Katze Poppy liegt auf einem vergessenen Grab. Ich drehte das Bild um und entzifferte meine eigene Schrift: Nur wer mit Toten vom Mohn aß, von dem ihren, wird nicht den leisesten Ton wieder verlieren.3 Rilke-Fan mit einem Hang zum Frühgrufti, schmunzelte ich über meine einstigen Vorlieben und stellte das düstere Bild neben das Buch von Gosh.
Schließlich fragte ich einen Ex-Opiomanen über seine Abhängigkeit aus und verliebte mich. Ich folgte jeder Spur, die Opium gelegt hatte oder nach sich zog, und ließ mich sogar von einer Parfumverkäuferin im Globus mit der neuesten Version Black Opium von Yves St. Laurent besprühen. Zu Hause rieb ich mir den süßlichen Duft von Jasmin, Kaffee und Patschuli von der Haut.
Falls ich vergessen haben sollte, mich vorzustellen: Ich vermittle Kultur.
«Ich begrüße Sie herzlich im Namen des Museums der Kulturen», lauteten meine Standardworte vor Führungen. Ein Zitat von Jean Cocteau half mir dabei, den Spielraum der Ausstellung Opium auszuloten: Ich verteidige nichts, ich richte nicht. Ich trage belastende und entlastende Urkunden zum Prozess des Opiums bei. Mit den Besuchern werfe ich einen Blick hinter Fassaden. Gemeinsam kratzen wir am Verputz.
Raum und Zeit bestimmen den Umgang der Menschen mit Opium. Was gestern und anderswo erlaubt war, ist heute und hier verboten. Das muss gesagt sein und betrifft jene, die Prinzipien brauchen. Zudem arbeite ich in einer offiziellen Institution und bin mir meiner Rolle bewusst. Ich achte auf meine Worte. Das Zitat von Cocteau dient als roter Faden, den ich durch die Räume ziehe und um die Dinge wickle. Da ich geradezu versessen aufs Prozessuale bin, finde ich es gut, dass es Zitate gibt, mit denen man den Rahmen abstecken kann. Ich spinne Netze dazwischen. Manchmal passiert es, dass so etwas eingefangen und ausgesponnen wird, was seine eigenen Wege geht. Es ist meine letzte Führung durch Opium. Das
Publikum ist mir zugewandt. Ich spüre seine Zuneigung. «Ich begrüße Sie herzlich im Namen von – bewusste Pause – Opium», sage ich dieses Mal.
Hinter mir, auf den Dias an der Wand, schieben sich Mohnblüten übereinander, bis sie sich, noch während ich spreche, von den Kapseln lösen und