Tägliches Befremden. Reingard Dirscherl

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Tägliches Befremden - Reingard Dirscherl Themen

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sich von den gesellschaftlichen Zwängen seiner Vergangenheit zu lösen? Dass die Frau eine Tochter hatte, schien ihm normal, denn schließlich war sie schon einmal verheiratet gewesen. Ihr Ex, wie sie ihn nannte, hieß Pfamatter, und sie hatte nach der Scheidung seinen Namen behalten. Jessy oder Hossy würde ihr nichts von Merijem erzählen.

      Er fingerte am Doppelknoten der Schnürsenkel und ärgerte sich wie immer darüber, dass er beim Öffnen so viel Zeit verlor. Endlich streifte er die Schuhe von den heiß gewordenen Füßen. Seine Gedanken kreisten um die Frau. Er würde sie umgarnen mit Geschichten, die von seiner Großmutter stammen könnten. Die Liebe zu den Geschichten war mit dem Blut der Alten an ihn weitergegeben worden, behauptete er, und im Märchenerzählen konnte ihm keiner das Wasser reichen. Dass er aus Bagdad kam und die Wüste nur vom Hörensagen kannte, würde ihn nicht hindern, die Sterne am nachtblauen Firmament zum Funkeln zu bringen. Und die Sterne schienen zum Greifen nah! «Pifa, Pifa, Pifamatter», wiederholte er den Namen wie ein Mantra, bis daraus endlich das gewünschte Pfamatter wurde.

      «Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag …»

      Er wollte seine Bekannte zum Kaffee einladen. Das machten seine Kollegen auch so. Frau Pfamatter kam ihm zuvor. Sie lud ihn zum Kaffee ein! Irritiert steckte er die Zehnernote, die er aus dem hinteren Hosensack, wo er die Scheine immer lose aufbewahrte, hervorgewurstelt hatte, wieder zurück. Die Frau himmelte ihn an, den Elektroingenieur mit den schwarzen, kurzgeschorenen Haaren und den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht. Sie überlegte sich, was sie ihm schenken könnte. Es war nicht schwer. Sie würde ihm ein Portemonnaie schenken.

      Wahrscheinlich verliebten sie sich ineinander. Ich weiß es nicht. Als Lehrerin kannte ich ihn, wie gesagt, kaum und hatte ja auch gewisse Vorurteile. Nur aus der Ferne bekam ich mit, wie sich das Exil fester und fester an ihn klebte. Die oberste Schicht seiner Haut hatte neben der Farbe auch die Konsistenz von Honig angenommen. Die Frau fand ihn süß, und Jessy oder Hossy erreichte die baldige Schließung der Ehe. Dass er den Namen ihres Exmannes annahm, störte ihn nicht, denn er war jemand, der alles annahm, in kürzester Zeit.

      Die Frau empfing sein Kind. Es vergingen Jahre, bis ich Herrn Pfamatter an einem schwülen Sommersamstag, es war der 31. Juli 2001, um einmal genau zu sein, wiedertraf. Auf dem Flohmarkt verkaufte er alte Stühle, die er über Nacht auf der Straße eingesammelt und in seiner freien Zeit aufgefrischt hatte. «Kömmet doch mol nächschti Wuche zum Znacht» (Kommt doch mal nächste Woche zum Abendessen), sagte er. Nach all den Jahren war er verbal wie formal vertraut mit den hiesigen Gepflogenheiten und zog einen Kalender aus der Innentasche seines Regenmantels. «Geht’s am Freitag?», fragte er und blickte mir dabei in die Augen. Ich spürte, wie ich errötete und seinem Blick ausweichen wollte. Nicht die Einladung irritierte mich, sondern sämtliche Zeichen der Anpassung, die ich wahrnahm. Ich brauchte keinen Terminkalender, um ihm zu sagen, dass es am Freitag leider nicht gehe.

      Sein Sohn, der die ganze Zeit neben ihm gestanden hatte, reichte mir sein klebriges Händchen. Ich beugte mich zu dem Knaben mit den langen schwarzen Wimpern und dem rotverschmierten Mund hinab. «Reizendes Kind», dachte ich, ohne ihm meine Hand entgegenzustrecken. Der Vater war stolz auf sein Söhnchen, wie viele Sprachen es spreche, dieses knapp fünfjährige Kind, nämlich Englisch, Düütsch, womit er den Schweizer Dialekt der Gegend meinte, und Arabisch. In der Linken hielt es ein rundes Gebäck mit weißem Kreuz auf himbeerrotem Marzipanguss.

      Weitsicht verboten

      Sie öffnete die Fensterflügel. Ihr Blick fiel auf die Obstgärten. Die Äste senkten sich tief unter der Last der reifen Orangen. Hinter den Blättern der Feigenbäume und den feurig­roten Granatapfelblüten verschwanden die Ziegeldächer der Gartenhäuschen. Über ihnen lag ein stahlblauer, gebogener Streifen. Schwach hob er sich vom dunstigen Horizont ab. Das Meer. Olivia atmete den feuchten Geruch ein, bevor sie sich zu viert auf den Weg machten.

      Der Duft der reifen Früchte verhieß jedoch kein Land, wo die Zitronen blühen. Die Wellen dieses Meeres hatten nichts von der lockenden Klarheit des Mittelmeers, aus dem Botticellis Venus entstiegen war. Das Kaspische Meer trug Trauerflor. Es versteckte sich hinter endlosen Mauern, die die Küste von West nach Ost und von Ost nach West säumten. Bloß die bonbonbunten Schindeldächer der Villen lugten hervor. Die postrevolutionäre Bauweise gipfelte – ganz im Gegensatz zur politischen Ideologie – in einem unorthodoxen Mix, in dem sich sämtliche Einflüsse aus dem Ausland zusammenfanden. Fern­östliche Pagodendächer stützten sich auf korinthische Säulen, aus dem Seitentrakt wuchsen Türme im Stil französischer Landschlösschen, und die gewölbte Abdeckung neben der Eingangstüre glich einem aus Disneyland nachempfundenen Pilz.

      Der Daewoo mit dem Fahrer, den beiden Kindern und der Besucherin aus der Schweiz suchte nach einem Zugang zum Meer. Doch es hielt sich hinter Mauern versteckt. Die darauf gemalten Graffiti zogen an ihnen vorbei. Wären sie langsamer gefahren, hätte Olivia, die die Schrift noch nicht beherrschte, die Sätze erfahren können. Denn die Wörter entfalteten sich von rechts nach links, als wollten sie die Ausflüglerin ein Stück auf der Reise begleiten. Während die ersten Buchstaben noch neben ihr herliefen, entschwanden die folgenden bereits im Rückspiegel, bevor Olivia ihre Bedeutung erfassen konnte. Sie flogen ihr buchstäblich davon.

      Ab und zu stand ein Eisentor offen, und das Auge erhaschte die Sicht auf einen Weg, der zu einem Stückchen Blau führte. Ein anderes Mal zeigte sich hinter Bougainvillea- oder Oleandersträuchern flüchtig der Ausschnitt einer Hausfassade mit vergitterten Fenstern. Die Besitzer waren über das Wochenende der Hektik Teherans entflohen. Oder sie kamen an den zahlreichen Trauertagen, die es nicht zuließen, dass der Alltag einen Rhythmus zum Tanzen fand.

      Dann verbarrikadierten sich die Familien in ihren Villen hinter den Mauern. Manchmal beluden sie ihre Autos, um zu einem Picknickplatz im Wald oder an einen Wasserfall zu fahren, wo sie das Gleiche taten wie die anderen auch. Sie breiteten die Decken samt den mitgeführten Kissen aus, stellten die noch warmen Töpfe mit Khoresh9 darauf, legten Früchte und ganze Sträuße von Kräutern daneben und schoben sich die persischen Köstlichkeiten in den Mund.

      Auf der löchrigen Straße, die pfeilgerade an den Mauern vorbeiführte, holperten die Busse, ein Auge zum Schutz gegen den bösen Blick in der Mitte über der hinteren Scheibe und darunter, gleich einer Beschwörungsformel: Ya Ali, Ya Mohammed, Ya Hossein10 und wie-die-Imame-alle-heißen. Blaue Viehwagen mit zusammengepferchten, von der Feldarbeit zurückkehrenden Menschen stellten sich den Personenwagen in den Weg, die links und rechts vorbeimanövriert wurden. Ein Lastwagen hatte unter dem Gewicht prall gefüllter Reissäcke, die sich fest aufeinandergeschnürt über die dreifache Höhe des Wagens stapelten, Schlagseite bekommen und drohte, auf die Fahrbahn zu kippen. Beim Überholen des schwergewichtigen Transporters wäre beinahe ein klappriges Motorrad zu Fall gekommen. Es kroch zirpend inmitten der Fahrbahn einher – sechs ungleiche Beinchen zur Seite gestreckt – und glich von hinten einer schwarzen, etwas havarierten Grille, die eine dunkle Rauchspur nach sich zog.

      Die Achtsamkeit, die außerhalb des Autos den Umgang bestimmte, verpuffte gleich dem Dieselausstoß der Laster in der Luft. Niemand hielt sich an die Verkehrsregeln. Hinter dem Steuer, den Fuß auf dem Gaspedal, verschmolzen Fahrer und Fahrzeug.

      Während sich der Tachometerzeiger bedrohlich 120 näherte, wies das Verkehrszeichen am Straßenrand auf eine Geschwindigkeitsgrenze von 50 km/h hin. Die Zahl glich einem auf den Kopf gestellten Herzen mit einem Punkt. «Hier ist alles umgekehrt», bemerkte Olivia etwas verwirrt.

      Sie bogen in einen schmalen Sandweg ein und hielten vor der aufgeschütteten Düne, die angelegt worden war, um das Wasser daran zu hindern, sich ins Land zu fressen. Das Ufer maß nur ein paar wenige Meter, und auf den Steinen sammelte sich Strandgut: Flaschen, Plastiksäcke und die angespülte Kopie eines Markenturnschuhs Made in China. Links eine Mauer, rechts ein bis dicht ans Wasser reichendes rostiges Gittertor. Sie machten

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