Freiheit, Verantwortung, Selbsthilfe. Heiko Kleve
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Freiheit, Verantwortung, Selbsthilfe - Heiko Kleve страница 7
Die Systemtheorie geht davon aus, dass sich nicht nur die Wirtschaft in dieser Weise vollzieht. Sondern auch alle anderen Funktionen, die in einer Gesellschaft realisiert werden müssen, verwirklichen sich eigenständig, eigendynamisch, spontan, mithin unwillkürlich hinter dem Rücken der Akteure: etwa der Umgang mit Macht (Politik), die Regeln des sozialen Zusammenlebens (Recht), die Verbreitung von Informationen (Massenmedien), die Erziehung und Bildung, die Produktion des neuen und anschlussfähigen Wissens (Wissenschaft) oder das organisierte Helfen. So wird von einer funktional differenzierten Gesellschaft gesprochen, die sich angesichts der Ausbreitung der digitalen Medien, der vernetzten Computer zunehmend zu einer beschleunigten Netzwerkgesellschaft transformiert (Baecker 2007). Das bedeutet, dass die genannten Systeme in ihrer jeweiligen Eigendynamik hoch irritierbar geworden sind durch das, was in den jeweils anderen Systemen geschieht. Politik und Wirtschaft, Recht und Wissenschaft, Massenmedien und Bildung – alle diese Systeme ermöglichen und begrenzen sich zugleich. Sie können sich nicht nicht beeinflussen, ohne jedoch in der Lage zu sein, sich gegenseitig zu determinieren.
Weder die Wissenschaft noch die Politik, weder die Bildung/Erziehung noch die Massenmedien können die Wirtschaft steuern, planen oder regeln. Und dies gilt im Verhältnis aller Systeme zueinander entsprechend. Sie agieren eigendynamisch, aber angewiesen auf die Ressourcen (etwa Geld, Macht, Recht, Wissen, Information, individuelle Bildungsabschlüsse/Kompetenzen etc.) der jeweils anderen. Daher dominiert nicht nur die Wirtschaft über Geld die Gesellschaft. Wer kein Geld hat, ist arm dran, aber genauso diejenigen, denen es an Rechtsansprüchen fehlt; die keine Möglichkeiten haben, auf die politische Macht Einfluss zu nehmen; denen es an Wissen und Bildungsabschlüssen sowie an Kompetenzen fehlt; die nicht die notwendigen Informationen haben und/oder verarbeiten können, um sich in der unübersichtlichen Weltgesellschaft zu orientieren. Daher wird in der Systemtheorie davon ausgegangen, dass wir inzwischen in einer polyzentrischen Gesellschaft leben – jedes Funktionssystem kreist um sich selbst, ist sein eigenes Zentrum, beobachtet die Welt aus der jeweils eigenen Perspektive. Und auch dies kann nur als eine perspektivische Aussage daherkommen: als Beobachtung eines wissenschaftlichen Beobachters.
Die Systemtheorie kann mit Nassehi (2015) als Sozialphilosophie eines komplexen Liberalismus verstanden werden, weil sie dreierlei leistet: Erstens beschreibt sie die Freiheiten und Abhängigkeiten der gesellschaftlichen Funktionssysteme. Diese sind grundsätzlich in ihrer Eigendynamik frei, aber zugleich auf die Funktionsweise der anderen Systeme angewiesen, da sie sie als Ressourcenlieferanten benötigen. Zweitens lassen sich die Systeme nicht determinieren, nicht zentral steuern, sie agieren im Rücken der Akteure eigendynamisch und spontan. Und drittens können die Systeme über die Reflexion der eigenen Angewiesenheit hinsichtlich der jeweils anderen Systeme, also in ihren systemischen Kontexten, Selbststeuerungen und Selbstbegrenzungen vollziehen. Nichts anderes könne politische Gesellschaftssteuerung heute sein: die Funktionssysteme zur Selbststeuerung und Selbstbegrenzung anzuregen, sodass ihre jeweils hoch rationalen, hoch effektiven und effizienten Eigenlogiken eben nicht gesamtgesellschaftliche Irrationalitäten, sondern tatsächlich mehr Wohlergehen für alle, mehr Gemeinnutz erzeugen.
Gesellschaftliche Akteure, wo auch immer sie sich verorten, können angesichts des komplexen Liberalismus der Systemtheorie erkennen, welche ungeheure Dynamik die Gesellschaft inzwischen weltweit in jeweils unterschiedlicher funktionssystemischer Weise entfaltet. Beobachtbar ist damit auch, dass wir nicht (mehr) im Kapitalismus, nicht (mehr) in einer wirtschaftlich dominierten Gesellschaft leben, sondern in einer vielgestaltigen, einer komplexen Sozialwelt, die wie von der Wirtschaft ebenso abhängig ist von der Wissenschaft, der Politik, dem Rechtssystem, der Bildung/Erziehung, den Massenmedien oder der Sozialen Arbeit. Diese Gesellschaft lässt sich nicht zentral steuern, sondern ist hinsichtlich der Effekte, die durch die Funktionssysteme permanent sichtbar werden, in einer strukturell ambivalenten Gestalt. Nichts ist mehr eindeutig bewertbar, sondern erscheint aus unterschiedlichen Perspektiven sehr unterschiedlich. Was für die einen als Problem bewertet wird, scheint für die anderen die Lösung zu sein.
1.5Soziale Arbeit als gesellschaftliches System
In der modernen Gesellschaft entwickelt auch die Soziale Arbeit eine funktionssystemische Eigendynamik. Das bedeutet, dass das professionelle, mithin berufsmäßig ausgeführte, wissenschaftlich reflektierte, sozialpolitisch gewollte, rechtlich gerahmte und wirtschaftlich sich rechnende Helfen ebenfalls einen autonomen Charakter bekommt (siehe dazu grundlegend Baecker 1994). Freilich zeigen sich immer noch vormoderne Hilfeformen, die wichtig bleiben, für Menschen existenzerhaltend und auch für die Soziale Arbeit zielorientierend sind, etwa die gegenseitige Hilfe unter Familienmitgliedern oder unter Freunden sowie die moralisch motivierte Hilfe zwischen Fremden. Diese Hilfeformen finden jetzt in einem Kontext statt, in dem mit professioneller Hilfe gerechnet wird, die eben nicht auf Gegenseitigkeit oder auf moralischer Motivation beruht, sondern die rechtlich konditioniert, wirtschaftlich organisiert, wissenschaftlich fundiert und sozialpolitisch verankert ist.
Damit bringen wir sogleich zum Ausdruck, dass funktionssystemisches Helfen von den anderen Funktionssystemen der Gesellschaft abhängig ist, aber eben nicht von ihnen determiniert werden kann. Um nur ein Beispiel zu nennen, das zumeist in Kontexten eine Rolle spielt, in denen die vermeintliche Neoliberalisierung der Sozialen Arbeit kritisiert wird: Dieses Helfen muss sich rechnen, muss wirtschaftlichen Effizienzkriterien gehorchen. Demnach können wir freilich die Hilfeleistung selbst, insbesondere das Personal, das dafür bezahlt wird, sowie die Zeit, die dafür aufgebracht werden muss, kurz: das Geld, das dafür investiert wird, als knapp bewerten. Denn dieses Geld muss irgendwoher kommen, muss erwirtschaftet werden und über Steuereinahmen bzw. Transferleistungen oder über Sponsoring und Spenden der Sozialen Arbeit zur Verfügung gestellt werden. Sodann gilt es, das Geld so einzusetzen, dass es der gesellschaftlichen Funktion der Sozialen Arbeit am ehesten dienlich ist, dass es Hilfen fördert, die die Selbsthilfekräfte der Menschen stärken, wirtschaftliche Anreize für die Akteure und Organisationen tatsächlich so setzt, dass sie an diesem Erfolg und nicht an der permanenten Ausweitung der Hilfsbedürftigkeit arbeiten (weiterführend dazu Kleve 2015a).
Soziale Arbeit, und dies soll hier ausdrücklich festgehalten werden, stimmt mit ihren ethischen und fachlichen sowie ihren sozialrechtlich kodifizierten Zielsetzungen mit dem Freiheits- und Autonomiebegriff des Liberalismus, sogar mit seiner radikalsten Ausprägung, dem Libertarismus, grundsätzlich überein. Murray Rothbard (1973, S. 133), vielleicht der konsequenteste libertäre Freiheitsdenker der USA, formuliert dies deutlich, wenn er schreibt, dass das klassische Ziel von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern ein »libertäres« sei, dass nämlich
»die Hilfe […] den Empfängern helfen [solle], so schnell wie möglich unabhängig und produktiv zu werden«.
Zudem sei das Ziel des radikalen Liberalismus, auf den Staat so weit wie möglich zu verzichten, sodass
»alle Unterstützungen und Wohlfahrtszahlungen […] freiwillig und durch private Organisationen geleistet und nicht durch staatlich erhobene Zwangsabgaben« (ebd.)
realisiert werden. Hier hat der komplexe Liberalismus der Systemtheorie freilich eine andere Position, er sieht den Staat und seine Leistungen als evolutionäre Errungenschaften der Gesellschaftsentwicklung.
Letztlich ist der Libertarismus, insbesondere seine anarcho-kapitalistische Variante, für die Rothbard steht, wie