Die Netflix-Revolution. Oliver Schütte

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Die Netflix-Revolution - Oliver Schütte Midas Sachbuch

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Haushalten von ca. 10.000 im Januar auf 80.000 im Dezember. Zwei Jahre nach der ersten regulären Sendung war klar: Der Siegeszug des neuen Mediums lässt sich nicht mehr aufhalten.

      Wie in der Ansprache von Werner Pleister deutlich wird, war der Beginn von Auseinandersetzungen über die Sinnhaftigkeit der Erfindung gekennzeichnet. Kritik kam aus verschiedenen Richtungen und aus unterschiedlichen Motiven. Die damals bekannte Zeitschrift Quick betitelte 1952 einen Artikel über das neue Fernsehen: »Amerikas gefährlichster Hausgenosse kommt zu uns!«4 Bundestagspräsident Hermann Ehlers schrieb im Jahr darauf in einem Brief an Pleister: »Sah eben Fernsehprogramm. Bedaure, dass Technik uns kein Mittel gibt, darauf zu schießen.«5 Diese Kritik zielte vor allem auf die plumpe Unterhaltung, die den Zuschauern geboten wurde.

      Die Einschätzung änderte sich aber auch in späteren Zeiten nicht. So schrieb 1978 der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt in einem Gastbeitrag in der ZEIT: »Mein Eindruck ist, übertriebener Fernsehkonsum drängt vielfach den unmittelbaren Umgang der Menschen miteinander zurück. Wir alle haben selbst miterlebt, wie sehr dieses Medium unser Leben verändert hat – das politische Leben, das Leben jedes einzelnen, das Leben von Familien.«6 Er schlug sogar einen fernsehfreien Tag pro Woche vor.

      Und natürlich gab es einen anderen wichtigen Akteur, der den Beginn mit Argwohn beobachtete. Die Kinobetreiber und Filmproduzenten bangten um ihr Publikum, das nun vom Fernsehen von 20 bis 22 Uhr belegt wurde. Auch der Spitzname »Pantoffelkino« zeigte den Wettbewerb, der zwischen diesen beiden Abendunterhaltungen stattfand. Die Befürchtung der Branche bewahrheitete sich allerdings nicht, und die Kinoränge blieben weiterhin gut besucht. Dies lag unter anderem daran, dass die Filmemacher vieles taten, um die Besonderheiten des Kinos stärker ab- und hervorzuheben. Die Filme wurden durch neue Verfahren immer bunter und breiter, sodass ein Western mit einem einsamen Cowboy, der durch die weite Prärie ritt, in einem schwarz-weiß Fernseher banal wirkte.

      Zudem wurde mit 3D experimentiert – ein Unterfangen, das aber schon bald wieder verschwand.

       Das Lagerfeuer der Nation

      Ab den 60er Jahren nahm das Fernsehen einen entscheidenden Stellenwert im Leben der Menschen ein. Dies wurde auch dadurch deutlich, dass die Möbel im Wohnzimmer um das schwere und klobige Fernsehgerät herum angeordnet wurden. Für viele bestimmte das Programm zudem den abendlichen Tagesablauf. Es zwang die Zuschauer, wenn sie zum Beispiel die Nachrichten verfolgen wollten, zu einem vom Sender festgelegten Zeitpunkt einzuschalten. »Freizeit« bedeutete also nicht mehr, frei über die Zeit bestimmen zu können.

      Als im Januar 1962 Das Halstuch, die Verfilmung eines Krimis des englischen Autors Francis Durbridge als Miniserie lief, waren die Straßen leer, Theater und Kinos spielten vor kaum besetzten Rängen und die Zuschauerquote lag bei 89% aller Haushalte mit einem Fernsehgerät. Im Deutschen wird dieses Phänomen als »Straßenfeger« und in den USA als »Watercooler« bezeichnet. Der Ausdruck verweist darauf, dass Angestellte in ihren Pausen zu dem im Flur stehenden Wasserbehältern gehen und sich dort ein gekühltes Mineralwasser holen. Kommt ein Kollege vorbei, so folgt eine zwanglose Unterhaltung. Das Thema, über das dabei gesprochen wird, besitzt den »Watercooler Effect«. Und viele Fernsehsendungen ab den 60er Jahren besaßen die Eigenschaft, die Nation zu stimulieren, sodass sie am nächsten Tag mit den Freunden darüber kommunizierten.

      Anfang 1962 konnte sich niemand der Frage entziehen, wer denn der Täter in Das Halstuch sei. Es ging ein Aufschrei durch die gesamte Bevölkerung, als am Tag vor der letzten Folge ein bekannter Kabarettist in einer Berliner Zeitung per Werbeanzeige verriet, wer der Mörder ist.

      Aber nicht nur mit diesen herausragenden Ereignissen, insgesamt entwickelte sich das Fernsehen, als in den meisten Haushalten ein Empfangsgerät stand, zum »Lagerfeuer der Nation«. Neben Sportveranstaltungen und anderen wichtigen Events waren es vor allem Filme und Serien, die die Bevölkerung vor den Apparaten versammelten. Das Heimkino erzeugte damit Momente, wie sie das Radio bisher nur in wenigen Ausnahmen hergestellt hatte. Über Schichten und Milieus hinweg wurde eine Nation durch eine fiktionale Erzählung miteinander verbunden. Der einfache Arbeiter und der Millionär, alle verfolgten die Durbridge-Verfilmungen oder die Serie Die Firma Hesselbach. Die Erlebnisse rund um die gleichnamige Familie und ihr kleines Unternehmen sahen bis zu 94 Prozent der Fernsehzuschauer.

      Es entstand eine nationale Kultur, wie sie zuvor nur die Literatur ermöglichte. Beim Fernsehen handelte es sich jedoch um ein Massenphänomen, denn verglichen damit, waren die Auflagen von literarischen Bestsellern verschwindend gering. Auch sorgte der Umstand, dass die Sendungen von allen zeitgleich konsumiert wurden, zu einer neuen Qualität. In jenen Ländern mit einem starken Fernsehprogramm bildeten sich eigenständige nationale Fernsehkulturen. In Deutschland gab es dazu noch die Besonderheit, dass die westlichen Programme fast überall in der DDR geschaut werden konnten. Obwohl nicht erwünscht, nutzten viele Bürger des Ostens diese Möglichkeit, durften allerdings nicht am nächsten Tag mit den Kolleginnen und Kollegen offen darüber reden. So riss trotz des Mauerbaus die kulturelle Gemeinsamkeit durch das Fernsehen nie ganz ab.

      Der kanadische Philosoph und Medienwissenschaftler Marshall McLuhan hatte Anfang der 60er Jahre das »globale Dorf« vorhergesagt. Die elektronischen Medien würden, so hatte er postuliert, die Menschheit zu einem Dorf vereinigen. Seine These war, dass wie die Trommeln eines Stammes über die Geschehnisse in der nahen Umgebung unterrichten, verteilen sich die Nachrichten allen voran durch das TV über den gesamten Globus.

      Tatsächlich hat das klassische Fernsehen eher das »nationale Dorf« erschaffen, denn die Fernsehspiele, Serien, Shows und die Nachrichten vereinten die jeweiligen Nationen.

       Tutti Frutti

      Etwa 30 Jahre lang mussten die Zuschauer, um ein anderes Programm zu wählen, aufstehen und die Schalter am Gerät bedienen – eine Aufgabe, die dazu führte, dass das Programm eher selten gewechselt wurde. Die Geduld des Publikums war groß, und die Verantwortlichen bei den Sendern waren sich dessen bewusst.

      Anfang der 80er verbreiteten sich die ersten Fernseher mit Fernbedienung. Was zuerst noch ein teures Vergnügen war, wurde bald zum kostengünstigen Standard. Das kleine Gerät setzte einen Prozess in Gang, der unmerklich das Verhalten der Zuschauer und das Programm der Fernsehsender veränderte. »Zappen« wurde zum Volkssport, und die Geduld des Publikums schwand immer mehr.

      In Nordamerika führte die Fernbedienung dazu, dass Sendungen dem »Least Objectionable Programing« zu gehorchen hatten. Alle Produktionen wurden so konzipiert, dass sie keinen Widerstand erzeugten. Die Menschen vor den Fernsehgeräten sollte durch die Dramaturgie der Erzählung daran gehindert werden, aus Frust, Ärger oder Langeweile zu dem kleinen Kasten zu greifen und einen anderen Kanal zu wählen.

      In der Bundesrepublik kamen fast gleichzeitig mit der neuen Technologie die privaten Sender auf den Bildschirm. Aus den bisher drei Angeboten wurden kontinuierlich mehr, und der Bedarf auf bequeme Art und Weise das Programm zu wechseln fand mit der Fernbedienung die perfekte Erfüllung.

      Auf diesem Weg veränderten sich durch die privaten Anbieter und den Apparat in der Hand die Sendungen und die Geduld, die sie dem Publikum abverlangten. Die 14-teilige Serie Berlin Alexanderplatz von Rainer Werner Fassbinder, 1980 ausgestrahlt, wäre wenig später schon nicht mehr möglich gewesen. Die Verfilmung des Romans von Alfred Döblin, den er in den 20ern geschrieben hatte, war vielen Zuschauern zu langatmig. Auch wurden die Gewaltszenen und moralischen Verwerfungen kritisiert. Einige Jahre danach

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