Coffin Corner. Amel Karboul
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Beobachten Sie in Unternehmen ab und zu die Mentalität: Was wir machen, hat die letzten 30 Jahre funktioniert, wir machen einfach weiter?
Absolut. Ich sehe, wie viel verschwendet wird, an Ressourcen und an Möglichkeiten. Ich kenne Unternehmen, die merken, dass die alten Regeln nicht mehr funktionieren. Statt etwas zu ändern, reagieren sie mit Hilflosigkeit. Wir haben ein Medizin-Diagnostik-Unternehmen beraten. Der damalige CEO ist jemand, den ich sehr respektiere. Er hat uns ein Video gezeigt, wie er mit Mitarbeitern in einem Workshop über anstehende Veränderungen redet. Er hat keine Diskussion zwischen den Mitarbeitern in Gang gesetzt. Ich habe ihn gefragt, weshalb er das sehr frontal macht, ohne interaktive Einheiten. Er hat mich angesehen und gesagt, er hätte es nicht gelernt, früher war es nicht üblich. Ich kann ihm das nicht vorwerfen. Im Gegenteil, ich war beeindruckt von der Klarheit, mit der er das benannt hat. Wir müssen immer wieder Räume für den Dialog, für die Begegnung schaffen – nicht, weil es sich gut anfühlt, sondern weil es notwendig ist. Solche Vorschläge werden gerne als Esoterik abgewertet. Aber Followership, die beziehungsorientiert funktioniert, wird so wichtig werden wie Leadership. Das müsste zur Ausbildung von Führungskräften gehören. Ich glaube, viele haben da noch ein echtes Defizit. Die Harvard Business School hat Followership-Kurse angeboten. Die Leadership-Kurse waren immer voll, der Followership-Kurs war am Anfang fast leer.
Weshalb ist Followership so wichtig?
Weil die Aufgaben zu komplex sind, als dass nur ein starker Leader oder eine Gruppe von Führungskräften alles steuern könnten. Ihre Aufgabe wird es sein, die Eigenverantwortung der Mitarbeiter zu stärken. In Zukunft wird jeder viel stärker für sich selbst verantwortlich sein. Ich glaube nicht, dass uns ein guter König oder unser Arbeitgeber diese Arbeit abnimmt. Vielleicht haben uns Organisationen in der stabilen Zeit der alten Industriegesellschaft daran gehindert, erwachsen zu werden. Es war bequem, die Verantwortung für das eigene Handeln an die Organisation zu delegieren. Jeder hatte sein Plätzchen. Menschen, die zu Minderheiten gehörten oder, egal aus welchen Gründen, nicht so ein bequemes Plätzchen hatten, haben vielleicht etwas klarer den Preis der Bequemlichkeit, die Entmündigung, gesehen. Es gab mal einen brand-eins-Titel: »Führung – Scheißjob.« Natürlich ist es das manchmal. Du musst Dich selber verändern, dabei bist Du auch verletzlich. Du bist mit Deiner eigenen Transformation beschäftigt, das ist anspruchsvoll genug. Und gleichzeitig musst Du das System transformieren, damit es Deine eigene Veränderung akzeptieren und selber in die neue Verantwortung wachsen kann. Das ist ein anspruchsvolles Paradox. Solche Transformationen können Ängste auslösen. William Bridges nennt das »Noman´s Land«. Das alte ist nicht mehr da und das neue ist noch nicht da. Man hat in solchen Übergangsphasen viel mit Angst, Unsicherheit, Zweifel zu tun.
Müssen wir uns daran gewöhnen, dass solche Transformationsprozesse der Normalzustand werden?
Ich glaube schon. Die Frage ist dann, wo bekommt man seine Sicherheit her? Organisationen haben den Leuten ja auch eine Orientierung und Identität gegeben. Das kann in Zukunft nur noch aus jedem selbst kommen. Ich meditiere zum Beispiel täglich, selbst als ich in der Regierung unter massivem Druck stand. Das war wirklich meine Überlebensstrategie, anders hätte ich es nicht geschafft. Das ist eine Frage, die ich mir immer wieder stelle: Was gibt uns in dieser Ambiguität und permanenten Transformation einen Halt?
Wie sieht die permanente Transformation in Ihrem Leben aus?
Ich habe eigentlich drei oder vier Identitäten. Ich habe meine Firma, ich bin Gründerin, aber nach der Rückkehr aus der Politik muss ich meine Rolle im Unternehmen neu finden. Ich habe zwei Kinder. Ich war in der tunesischen Regierung, und natürlich bin ich dem demokratischen Umbruch in der arabischen Welt weiter stark verbunden. Ich bin Generalsekretärin des Maghreb Economic Forum, ein Think Tank, der Wirtschaftsreformen in den nordafrikanischen Ländern begleitet. Die Zukunft der tunesischen Demokratie wird auch von den wirtschaftlichen Perspektiven abhängen. Und ich versuche, mir mit dem Schreiben und den Vorträgen immer wieder Reflexionsräume zu schaffen.
Klingt anstrengend.
Ich glaube, die Transformationsphase wird nie abgeschlossen sein. In dem Land, aus dem ich komme, Tunesien, haben viele Menschen keinen Zugang zu akademischer Bildung oder zu einem funktionierenden Gesundheitsystem. Aber sie sind daran gewöhnt, mit Unsicherheit umzugehen.
Das sagen Sie, als wäre Unsicherheit eine Ressource.
Ja, auf jeden Fall. Zugang zur Ressource Unsicherheit und die Fähigkeit, mit ihr umzugehen, wird immer wichtiger. Auch deshalb glaube ich, dass Afrika eine große Zukunft hat. Hier in Europa sieht man das noch nicht richtig, man sieht oft nur die Elends-Klischees und verpasst die großen Potentiale. China ist da wesentlich klüger. Alle neuen Potentiale, die auf uns zukommen, sind mit starken Unsicherheiten behaftet. Wer Angst davor hat, verpasst Chancen.
Haben Sie ein Beispiel dafür, wie Europa in Afrika Chancen verpasst?
Zum Beispiel beim Marktzugang für innovative afrikanische Firmen oder der Bereitschaft zur Kooperation. Es gab bei einem marokkanischen Versicherungsunternehmen, das in ganz Afrika expandiert, ein Angebot an die Allianz, da zu investieren. Die Allianz hat das, vielleicht auch aus Angst vor Unsicherheiten und dem afrikanischen Markt, nicht gemacht. Investoren aus dem Mittleren Osten und aus Asien sind eingestiegen. Dieses Unternehmen ist heute die größte Versicherung Afrikas, extrem profitabel und schnell wachsend. Ein anderes Beispiel: Eine sehr innovative tunesische IT-Firma, die Software für die Finanzindustrie entwickelt. Bei einem Pitch sagte ein deutscher CFO sinngemäß: A Company from Tunesia – that´s a joke. Sie kamen nicht in den europäischen Markt. Dann haben sie eine marode belgische IT-Firma gekauft. Seit sie als europäische Firma wahrgenommen werden, haben sie europäische Kunden, bis hin zur Bank of England. Aus ähnlichen Gründen hat ein tunesischer Kabelhersteller eine portugiesische Firma gekauft. Nur so wurden sie ernst genommen und konnten in Europa wachsen. Diese europäische Ignoranz ist eigentlich unglaublich. Das ist auch der Grund, weshalb wir unser LCP-Headquarter von Tunis nach London verlegt haben.
Ist Europa etwas provinziell?
Wir müssen verstehen, dass Europa, Nordafrika und der Nahe Osten eine Region sind, auch wenn Europäer glauben, Zäune bauen zu müssen. Das Worst-Case-Szenario: Europa wird obsolet aus Altersgründen, es wird ein Museum für Touristen aus Asien und Amerika. Nordafrika wird immer ärmer bei wachsender Bevölkerung. Es werden mehr Menschen im Mittelmeer ertrinken, andere radikalisieren sich. Der Nahe Osten investiert seine Milliarden in Asien und Amerika. Ein Best-Case-Szenario könnte aus Kooperation bestehen: das europäischen