Coffin Corner. Amel Karboul
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Ich verstehe das. Aus Ihrer Perspektive sieht das so aus.
Schauen Sie sich mit mir gemeinsam die Strategie genauer an, mit der Unternehmen versuchen, die Unwägbarkeiten des Marktes, des Kundenverhaltens und des Wettbewerbs in den Griff zu bekommen.
Diese Strategie basiert auf einem Grundsatz, den jeder Mensch seit seiner Schulzeit tausendfach gehört hat und der lautet: Wissen ist Macht. Im BWL-Studium wird dieses Axiom für den Spezialfall Wirtschaft übersetzt und noch tiefer in die Köpfe gehämmert: Je genauer du Bescheid weißt über deine Kunden, deine Wettbewerber, über das Kräftespiel des Weltmarktes, desto fundierter und treffsicherer kannst du deine Strategie planen. Dann wird dich keine Veränderung im Kundenverhalten oder Markt mehr unvorbereitet treffen. Dann bist du sicher.
»If you show us what you buy, we can tell you who you are, maybe even better than you know yourself.«
So zitierte die US-amerikanische Nachrichten-Webseite »The Daily Beast« 2010 einen früheren CEO der kanadischen Supermarktkette Canadian Tire. Mit Hilfe einer riesigen Datensammlung erstellte das Unternehmen psychologische Profile seiner Kunden. Der Konzern ermittelte, dass Kunden, die sowohl Messgeräte für Kohlenmonoxid als auch Premium-Vogelfutter und Filzgleiter für Stuhlbeine kaufen, regelmäßig die Fristen ihrer Rechnung verpassen. Wer billiges Motorenöl kaufte und auch noch in Montreal die Bar »Sharx« besuchte, bei dem war das Risiko, die Rechnung zu spät zu bezahlen, noch höher. Dieser Logik folgend, wurde allen Kunden, die diese Produktkombinationen kauften, der Kredit verweigert.
Das Kreditkarten-Unternehmen Visa legte ebenfalls detaillierte Statistiken zum Kundenverhalten an und wertete sie konsequent aus. So konsequent, dass eines Tages ausgewählten, eigentlich guten Kunden jeweils ein Brief ins Haus flatterte: Visa bot ihnen darin 300 Dollar, wenn sie kündigten.
Doch. That‘s real.
Diese Kunden hatten ihre Rechnungen immer bezahlt und trotzdem wollte das Unternehmen sie loswerden. Denn Visa hatte aufgrund einer umfangreichen Datensammlung vorausberechnet, dass sie zu Risikokunden werden könnten. So funktioniert der Versuch, das Chaos zu kontrollieren. So funktioniert Big Data!
Finden Sie das absurd? Aber wieso? Hier wurde das Prinzip »mehr Wissen = mehr Planungssicherheit« doch nur konsequent angewendet. Das und nichts anderes ist die Konsequenz aus dem Denken, das in unserer Gesellschaft (fast) jeder akzeptiert und praktiziert, von der Kita bis zum Altenheim.
Mehr Informationen über Kunden, mehr Informationen über Wettbewerber und vor allem mehr Informationen über das eigene Unternehmen sollen bei der noch detaillierteren Planung helfen. Um die internen Informationen zu sammeln und zu bündeln, gibt es die Controlling-Abteilungen, die in den letzten zwei Jahrzehnten immens ausgebaut wurden. »Immer mehr Unternehmen setzen darauf, jemanden einzustellen, der diese Aufgabe übernimmt«, schrieb das deutsche Börsenportal wallstreet:online im August 2013. Controller sammeln und analysieren alle Zahlen, die sie im und ums Unternehmen auftreiben können. Und sie werden darin immer besser.
Diese Informationen kumulieren, analysieren und präsentieren sie dann der Unternehmensleitung. Und diese entscheidet auf dieser Grundlage, beschließt den Geschäftsplan fürs nächste Jahr und Maßnahmen, mit denen die geplanten Ziele erreicht werden sollen. Ursache-Wirkungs-Ketten werden angestoßen, alles auf der Basis möglichst guter Zahlen. Exzellent.
Dann überprüft das Controlling laufend, ob der Ist-Zustand noch mit dem Soll-Zustand übereinstimmt. So kann das Management bei der geringsten Planabweichung sofort einschreiten und eine einfaktorielle Intervention starten. Brillant. Das Unternehmen orientiert sich also strengstens und mit höchster Disziplin an – woran? Am Plan!
Die Ressourcen des Unternehmens werden unter dieser Prämisse mithilfe von Enterprise-Resource-Planning-Software optimal eingesetzt, der Arbeitsalltag sparsam und schnell organisiert, mit einem Wort: effizient. Denn darum geht es im Management: die Effizienz zu steigern, die Kosten und den Zeitaufwand pro produzierter Einheit oder pro Dienstleistung zu senken, den Gewinn pro Einsatz zu erhöhen, jede Form der Verschwendung auszumerzen, das Optimum herauszuholen. Das Unternehmen als Formel-1-Bolide, an dem jeden Tag getüftelt wird.
Der nächste Schritt ist, nicht nur die Ressourcenverwaltung, sondern die Prozesse an sich zu optimieren. Jeder Arbeitsschritt, jeder Zentimeter Weg, jede Aufgabenverteilung, jedes i-Tüpfelchen in der Kommunikation der Mitarbeiter, soll perfekt aufeinander abgestimmt werden. Jedes organisatorische Detail, jedes unvorhergesehene Ereignis, das den reibungslosen Ablauf stören könnte, muss beseitigt werden, damit ein Rädchen reibungslos ins andere greift und die ganze Unternehmensmaschine schnurrt und summt wie ein riesiges, perfekt gewartetes und eingestelltes Uhrwerk.
Dazu braucht es: Prozesshandbücher. Ausgefeilte Norm-Regelwerke. ISO 9001 (Mindestanforderungen ans Qualitätsmanagement). ISO 14001 (internationale Umweltmanagementnorm). Allein bis Ende 2009 wurden über eine Million Zertifikate, basierend auf ISO 9001 und etwa 225 000 Zertifikate, basierend auf ISO 14001 erteilt. Diese Regeln sind für Unternehmen wie ein Zwölfpunkt-Sicherheitsgurt. Indem sie für jede nur denkbare Situation und Problemkonstellation Verfahrensweisen festlegen, geht das Management den sichersten Weg, das riesige Uhrwerk präzise zu steuern. Scheinbar.
Auf den ersten Blick funktioniert das Prinzip hervorragend! Jedenfalls in einer vorhersehbaren Ursache-Wirkungs-Welt …
Aber diese Welt hat in Wahrheit so nie existiert. Auch in den Industrieländern der sogenannten »Ersten Welt« wird uns mehr und mehr bewusst: Die Vorstellung, durch Controlling, ERP, DIN-Normen und Prozessmanagement gegenüber der als feindlich wahrgenommenen Komplexität der Welt gewappnet zu sein, ist nicht mehr und nicht weniger als ein gutes Gefühl.
Das Gefühl trügt. Auch Loewe und Kodak konnten Zertifizierungen nach ISO-Norm vorweisen. Auch sie hatten Marktforschung, Prozessmanagement und Rechenzentren. Es hat sie nicht vor der Pleite gerettet. Aber keine Sorge: Auch für die Insolvenzabwicklung gibt es eine ISO-Norm.
Diese Strategie, mit all ihren Facetten, läuft auf eins hinaus: Komplexität anhand von möglichst viel Wissen, möglichst genauer Planung und möglichst enger Steuerung unter Kontrolle zu bringen. Das setzt aber eine Prämisse voraus: dass Komplexität überhaupt kontrollierbar ist.
Damit waren Unternehmen bisher sehr erfolgreich.
Jedenfalls war es bisher leicht, das zu glauben.
Doch es gilt jetzt, diese Prämisse zu überprüfen!
Zieh hoch! Zieh hoch!
Ist Optimieren wirklich ein Erfolgsgarant? Ich behaupte das Gegenteil. Denn genau dieses Verhaltensmuster bringt Unternehmen zum Scheitern. Es hat renommierte Unternehmen wie Kodak, Hertie und Schlecker ebenso getroffen wie zahlreiche unbekanntere, die schon vom Markt verschwunden sind – oder demnächst vom Markt verschwinden werden.
Auf mehr Unsicherheit mit mehr Wissen, mehr Planung, mehr Kontrolle, mehr Optimieren reagieren, ist ein Reflex, der einmal nützlich war. Heute aber ist er keine angemessene Reaktionsweise mehr: Kein Unternehmen, kein Führungsgremium kann sämtliche Fakten und Entwicklungen, die es irgendwo auf der Welt gibt, im Auge behalten. Aber jedes kleine Faktum, irgendwo auf der Welt kann prinzipiell Einfluss nehmen auf das Unternehmen. Während Sie den Wettbewerber in Indien beobachten, wächst irgendein kleines Start-up in Indonesien rasend schnell auf Weltmarktgröße. Während Sie den indonesischen Markt im Auge behalten, bahnt sich auf dem brasilianischen Markt eine Revolution in einer andere Branche an, die Sie nicht auf dem Schirm haben, die Ihre Branche