Coffin Corner. Amel Karboul
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Für das Railway-Denken ist Kontrolle nicht nur ein absolut notwendiges Alltagsprinzip, sondern auch ein unermesslich wichtiger Maßstab für den Erfolg einer Person. Du hast alles im Griff – gut gemacht! Du wirst von einem unerwarteten Ereignis überrascht – was für eine Schande! Ebenso werden Unternehmen bewertet: Ein Konkurrent bringt das eigene Produkt schneller auf den Markt als man selbst – wie peinlich! Ein Lieferengpass bringt den kompletten Zeitplan einer Produktionslinie durcheinander? Das hätte man doch voraussehen und rechtzeitig reagieren müssen!
Diese Denkweise zwingt Unternehmen dazu, ihre Produkte, ihre Herstellungsprozesse und ihre Wertschöpfungsketten immer weiter zu optimieren: Schneller! Billiger! Kundenorientierter! Um das Gefühl zu haben, alles im Griff zu haben, wird sehr viel Zeit und Geld investiert: Daten sammeln, Statistiken auswerten, Regelung treffen, Normen definieren (kein Wunder übrigens, dass die Industrienorm eine deutsche Erfindung ist) – das alles soll dafür sorgen, dass die Dinge in geordneten Bahnen laufen und dass unerwartete Situationen niemals eintreffen. Falls sie doch eintreffen, dann hat man dafür schon einen Regenschirm – pardon – einen Plan B in der Hinterhand.
Du fixierst dich auf die Idee, alles kontrollieren zu können – obwohl es tatsächlich nicht so ist. Du verlässt dich auf die Aussagekraft von Graphen und Tabellen und vergisst dabei, dass sie lediglich ein Konstrukt sind. Ein Bild von der Realität, zwar unterfüttert mit Zahlen, aber dennoch nichts weiter als ein Bild. Du vergisst, dass dieses Bild ein Hilfsmittel ist, um der Realität nahe zu kommen – nicht die Realität selbst.
Denn die Realität ist letztlich unberechenbar, ganz besonders im hochtechnisierten und hochvernetzten 21. Jahrhundert.
Umdenken!
Für mich besonders bezeichnend war der Börsencrash vom 6. Mai 2010. Mitten am Nachmittag stürzten an der New York Stock Exchange plötzlich die Aktienkurse ein, und zwar dramatisch. Der Dow-Jones-Index gab um knapp 1.000 Punkte nach – einen Kurssturz dieser Art hatte es in der Geschichte der Wall Street nie zuvor gegeben. Die Aktien des Konsumgüterkonzerns Procter & Gamble fielen von 62 auf 39 Dollar; das ist ein Verlust von mehr als einem Drittel. Der US-amerikanische Energieversorger Exelon verlor zeitweise 99 Prozent. Nach zwanzig Minuten war der Spuk vorbei, so schnell wie die Aktienwerte gefallen waren, erholten sie sich auch wieder – aber niemand wusste, warum.
Die Nachrichtenbilder zeigten die Gesichter der Händler, an ihnen konnte man die gesamte Gefühlspalette ablesen, die sie in jenen Minuten durchlebten. Schock und Entsetzen. Der Versuch zu reagieren, hektisches Telefonieren. Ohnmacht und Hilflosigkeit angesichts der Tatsache, dass niemand so recht wusste, was gerade vor sich ging. »Es hat sich angefühlt, als hätten wir die Kontrolle verloren«, sagte Jack Ablin, CIO der Harris Private Bank, in einem Interview. Als ich das las, dachte ich mir: Welche Kontrolle? Ihr spielt ein riskantes, komplexes und chaotisches Spiel – und glaubt dennoch, dass ihr dieses Spiel kontrollieren könnt?
In solchen Momenten steht mir die andere Denkweise viel näher. Die Denkweise, die in Vielem das Gegenteil ist von Railway-Denken. Ich nenne sie Granatapfel-Denken. So wie ein Granatapfel viele Kerne hat, die ohne Kerngehäuse gleichberechtigt nebeneinander liegen, kennt diese Denkweise viele Möglichkeiten, viele Realitäten, viele Perspektiven, viele Wege. Ja, meistens gibt es sogar mehrere Wege, mehrere Startpunkte, mehrere Ziele. Und jeder dieser Wege, jedes der Ziele ist auf seine Art lohnend, verlockend wie der süße aromatische Saft des Granatapfels. Zwischen diesen Wegen entscheidet man sich ganz spontan, ungeplant, und erst, wenn die Möglichkeiten offen vor einem liegen. Das ist eine ganz andere Herangehensweise als Railway-Denken. Hier gibt es kein Optimum mehr und darum auch keine höchste Effizienz. Aber dafür ist mehr Raum für ein »Vielleicht«, für ein »Ich glaube schon«, für ein »Ich weiß es nicht« oder ein »Probieren wir es einfach mal aus«.
Widersprüche sind existent. Sie sind überall. Sie sind nicht auszulöschen. Sie gehören zum Leben. Unsicherheiten und Unwägbarkeiten sind kein Problem, solange ein Spielraum zum Reagieren bleibt. Um diesen Spielraum geht es. Wenn nicht in jeder Situation der Überblick klar erkennbar ist, ist das kein Grund zur Scham. Im Gegenteil. Denn in der Wirklichkeit ist mit genau diesen beiden Eigenschaften zu rechnen: was passiert, kann unlogisch und widersprüchlich sein. Dazu kommt ein dritter Punkt: Nicht immer ist etwas nur schwarz oder weiß oder blau oder rot, sondern häufig oder sogar meistens von allem ein bisschen.
Das macht nicht nur das Alltagsleben bunt, sondern auch Unternehmenskulturen sehr viel entspannter und beweglicher. Ein Wirbelsturm hat die Stromversorgung gekappt? Dann werfen wir die Notstromaggregate an und sehen mal, wie weit wir kommen. Die Regierung kürzt die Forschungsetats für die Raum- und Luftfahrt? Dann sollten wir ein anderes Erlösmodell versuchen. Das Granatapfel-Denken reagiert auf das, was in der realen Welt passiert – anstatt anzunehmen, dass es mit Plänen die reale Welt in den Griff kriegen könnte. Es orientiert sich nicht am Plan, sondern an der Welt.
Bekanntestes Beispiel ist der Suchmaschinen-Marktführer Google: 20 Prozent ihrer Zeit können Mitarbeiter nutzen, um außerhalb des Solls neue Ideen zu entwickeln und eigene Projekte zu verfolgen – auch, wenn sie vielleicht mit Google gar nichts zu tun haben oder nie umgesetzt werden. Das ist alles, nur nicht effizient! Das ist überhaupt nicht optimal! Es sieht sogar aus, wie eine grandiose Verschwendung. Aber: Google News ist so entstanden. Und Google Maps. Und Google Mail. Einfach mal ein Produkt auf den Markt werfen – und dann abwarten, ob es den Nerv der Zeit trifft. Wenn nein, dann eben nicht. Google Wave, Google Buzz? Gefloppt. So what?
Wenn das Railway-Denken und das Granatapfel-Denken aufeinanderprallen, gibt es oft Missverständnisse. Vielleicht haben Sie das auch schon mal erlebt. Sie wollen von Ihrem Geschäftspartner einfach nur wissen, wie Sie Ihre Rechnung stellen sollen – und bekommen drei verschiedene Antworten. Wie reagieren Sie? Vielleicht sind Sie beeindruckt, mit welcher Souveränität mit den Möglichkeiten jongliert wird. Mit höherer Wahrscheinlichkeit schütteln Sie den Kopf: Was für ein Chaos! Was für eine Umständlichkeit! Und was für phlegmatische Menschen! Und Ihre Geschäftspartner wundern sich möglicherweise genauso über Sie: Was für ein unflexibler Mensch, was für ein Bürokrat!
Dabei ist keine der Denkweisen besser oder schlechter als die andere. Die Frage ist einfach: Welche Denkweise ist in der jeweiligen Situation geeigneter?
Junge innovative Unternehmen versuchen seit einiger Zeit, sich das Beste aus beiden Denkwelten zu holen. Insbesondere bei der Entwicklung neuer Produkte haben viele Unternehmen begriffen, dass sie einen gewissen Freiraum für ihre Mitarbeiter schaffen müssen. Denn Kreativität verläuft kaum nach linearen Mustern und lässt sich daher nur bedingt planen. Ohne Kreativität gibt es kein verbessertes Produkt. Doch auch hier schlägt der über Jahrzehnte antrainierte Kontroll-Reflex des Railway-Denkens wieder zu: Selbst für die Kreativität muss noch ein Kontrollprozess definiert werden. Wie lange darf ein Ingenieur brauchen, um an einer neuen Bremse zu tüfteln? An welchen Stellen können Kosten eingespart werden? Wie kann mit möglichst geringem Aufwand ein optimales Kreativitäts-Ergebnis erzielt werden? Spätestens hier, wenn das Unplanbare geplant wird, beißt sich die Katze in den Schwanz.
Um wirklich aus der