Das Medaillon. Gina Mayer
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Dorothea schob das Buch mit spitzen Fingern weg, als wäre es klebrig oder heiß, dann hob sie den Kopf und sah, dass die Tür offen war, die sie vorhin geschlossen hatte, und dass Kirschbaum auf der Schwelle stand und sein stilles, in sich gekehrtes Lächeln lächelte. Sie spürte, wie ihr Gesicht zu glühen begann, als habe er sie bei etwas Verbotenem ertappt. Das Buch lag da, mitten auf dem Schreibtisch, William Shakespeares dramatische Werke, und sie hatte das Gefühl, dass es alles verriet, was sie über ihn wusste, aber das war natürlich Unsinn, es waren doch nur alte Theaterstücke.
Dennoch verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht von einem Moment zum anderen. »Ich bitte um Vergebung, ich war mir nicht bewusst, dass Sie schon da sind, weil die Tür geschlossen war ...«, sagte er förmlich. »Ich habe sie nur zugemacht, weil Sie Besuch hatten«, entgegnete sie ruhig. Sein Gesicht wurde noch ernster. Jetzt wusste er, dass sie wusste, worin sein eigentliches Geschäft bestand, womit er sein Geld verdiente.
Er nickte rasch mehrmals hintereinander, dann wandte er sich wieder zum Gehen. »Soll ich sie nun auflassen oder möchten Sie lieber ungestört ...?«
»Lassen Sie sie ruhig offen «, sagte sie, dann zog sie die Shakespeare-Ausgabe wieder zu sich und begann zu arbeiten.
Als er kurz vor halb zwölf nach hinten ging, um mit dem Kochen zu beginnen, passte sie ihn ab. »Ich muss heute Mittag in die Nordstadt«, sagte sie. »Ich kann ... ich werde also nicht mit Ihnen essen.« Es war ihr unangenehm, dass sie ausgerechnet heute keine Zeit dafür hatte, sie hatte sich tatsächlich schon am Morgen vorgenommen, über Mittag zu Tante Lioba zu gehen und eine Stunde bei ihr zu sitzen, als Ausgleich dafür, dass sie sie abends nicht mit zur Bibelstunde nehmen würde. Aber gleichzeitig war sie auch erleichtert, dass sie nun nicht mit Kirschbaum zusammen sein musste, sie hätte heute bestimmt nicht gewusst, was sie mit ihm reden sollte. Es war ja nichts Verwerfliches, dass er Geld verlieh, so lange er keinen Wucher betrieb. Und dennoch, es führte ihr so deutlich vor Augen, dass Kirschbaum anders war als sie und die Ihren, dass er andere Maßstäbe hatte und andere Werte. Dass er Jude war. Und sie, die Christin, arbeitete heimlich für ihn, ohne die Billigung ihrer Eltern, und half ihm so, seinen Gewinn zu mehren. Sie dachte an den verächtlichen Blick der schwarzhaarigen Frau und schauderte.
»Das ist sehr schade«, sagte Kirschbaum und seine braunen Augen glänzten so traurig, als könne er ihre Gedanken lesen.
Tante Liobas Häuschen auf der Friedrichstraße hinter der Gathe war immer ihr ganzer Stolz gewesen, mit seinem schwarzen Fachwerk und dem Schieferdach, aber jetzt war es in die Jahre gekommen, so wie sie selbst auch. Die Holzbalken krümmten sich, der weiße Putz war grau und porös, an einigen Stellen war er ganz abgeplatzt, so dass der gelbliche Lehm zu Tage trat wie das Innere einer Wunde. Das Dach war schief und wellig, eine alte, schuppige Haut, die sich über einen knochigen Körper spannt. Die anderen Häuser sahen nicht besser aus, sie beugten sich krumm zueinander hin, voneinander weg, die ganze Straße schien inmitten einer taumelnden, schwankenden Bewegung erstarrt zu sein. Auch das Kopfsteinpflaster zwischen den Häusern war alt und holprig, einzelne Steine waren tief im Boden versunken, andere ragten schief und krumm nach oben, und in den Fugen wuchsen Gras und Unkraut.
Bevor die beiden jüngsten Brüder geboren waren, hatten sie alle hier gewohnt, zusammen mit Tante Lioba, aber vor zehn Jahren waren die Leders dann in die Königsstraße gezogen und Tante Lioba war allein zurückgeblieben. Das Haus war zu klein für uns alle, sagten ihre Eltern immer. Aber ihre jetzige Wohnung im Luisenviertel war nicht größer als die obere Etage in Liobas Haus, die sie seit Jahren nicht mehr bewohnte, weil die Treppe schief und schadhaft war und das Dach undicht. Man könnte das obere Stockwerk doch herrichten, hatte Dorothea ihren Eltern vorgeschlagen, damals, als die Verwirrtheiten der Tante anfingen und sich täglich einer auf den Weg machen musste, um nach ihr zu sehen. Von der Friedrichstraße hätten sie es auch viel näher zur Kirche der Niederländisch-reformierten Gemeinde gehabt. Aber ihr Vater hatte nur mit dem Kopf geschüttelt, schnell und unwillig. »Nein, alles ist gut so, wie es ist.«
Jetzt fand auch Dorothea, dass alles gut war, wie es war, denn sonst hätte sie nicht in der Leihbibliothek arbeiten können.
Sie drehte den schweren Schlüssel im Schloss und die Haustür gab mit einem leichten Ächzen nach. Unter ihrer Hand fühlte sich das Holz morsch an, so als könnte sie die Tür ganz einfach eindrücken. »Tante Lioba«, rief sie laut. Und dann: »Walpurga?«
»So früh kommst du heute?« Die alte Walpurga steckte ihren Kopf aus der Stube, sie sah missmutig aus, als habe Dorothea kein Recht, einfach so zu erscheinen, wie und wann es ihr passte.
»Hat sie schon gegessen?«, fragte Dorothea und schob sich an ihr vorbei. Tantchen saß auf ihrem Lehnstuhl am Fenster, sie schaute auf die Straße und schien sie gar nicht zu bemerken. An manchen Tagen benahm sie sich ungebärdig und wild wie ein freches Kind, so dass man sie nicht aus den Augen lassen durfte, und dann saß sie wiederum den ganzen Tag nur da und starrte vor sich hin und gab keinen Ton von sich. Heute war wohl einer ihrer ruhigen Tage.
»Hab ihr was zubereitet, aber sie will ja partout nichts zu sich nehmen«, murrte Walpurga.
Dorothea seufzte und nickte. »Du kannst nun gehen, Walpurga. Wenn du nur um Viertel nach eins wieder hier bist.«
Walpurga starrte sie an und zupfte an den breiten Bändern ihrer Schürze, als habe sie sie nicht verstanden.
»Gibt es noch etwas?«, fragte Dorothea.
Walpurgas Augen wurden ganz schmal, sie öffnete den Mund, aber dann schloss sie ihn wieder.
»Walpurga«, sagte Dorothea, »wenn etwas nicht beim Rechten ist, dann sprich nur frei heraus. Und wenn du die Arbeit mit Tantchen nicht mehr machen willst, weil sie dir zu beschwerlich ist, so muss ich eben eine andere finden, die es übernimmt.«
Sie hatte in einem leisen, sanften Ton gesprochen, aber Walpurga hatte verstanden. »Dann komme ich also kurz nach eins wieder.«
Dorothea holte einen Apfel aus der Küche, dann schob sie einen Stuhl ans Fenster, so dass sie Tante Lioba gegenüber saß, und begann, das Obst zu schälen. Sie schnitt den Apfel danach in feine Streifen und reichte diese der Alten, die einen nach dem anderen zwischen ihren fast zahnlosen Kiefern zerdrückte.
Dorothea dachte an früher, als Tante Lioba noch nicht verrückt gewesen war. Damals hatte sie ihr alles erzählen können, ihre Freude und ihren Kummer und ihre Geheimnisse. Tante Lioba hatte sie verstanden. Sie hatte nie viel gesagt zu dem, was Dorothea ihr erzählte, zwei, drei belanglose Sätze oder manchmal auch gar nichts, dann hatte sie ihr übers Haar gestrichen oder ihre Hand festgehalten und mit ihren rauen Fingern ihre weiche Haut gestreichelt, wieder und wieder. Und diese wenigen Worte, diese spärlichen Gesten fehlten ihr jetzt so, dass sich ihre Brust zusammenzog, wenn sie daran dachte.
»Du hast den Verstand verloren«, sagte sie leise, während sie auf die knotigen Finger der alten Frau blickte, die sich in ihrem Schoß ineinander krampften. »Und ich den Halt.«
Dann musste sie lachen, weil es sich so dumm anhörte. Tante Lioba hob den Kopf und lachte ebenfalls, sie lachte ihr fröhliches, tiefes Lachen, das überhaupt nicht verrückt klang, sondern ganz normal, so wie früher. Daraufhin hörte Dorothea auf zu lachen und fing an zu weinen. Sie dachte an ihre Eltern, die sie belog, an Rosalie, die die Schöpfungsgeschichte leugnete, und an Kirschbaums traurige Augen. Sie weinte eine ganze Weile lang und Tante Lioba hörte ihr aufmerksam dabei zu, ganz so, als erinnerte sie Dorotheas Weinen an etwas, das weit zurücklag und das sie sich wieder ins Gedächtnis rufen wollte. Und während Dorothea weinte, schälte sie