Ich schenke dir den Tod. Ralf Gebhardt
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Zufrieden schob er den Walkman in den Rucksack zurück.
Körperpflege war wichtig. Außerdem musste sie bei Kräften bleiben. Deshalb griff er nach einem angebrochenen Glas Babynahrung. Er warf zwei Beruhigungstabletten hinein und bückte sich nach der Blechschüssel, mit der er das von den Wänden laufende Wasser aufgefangen hatte. Es war genug Wasser da, um die Babynahrung zu verdünnen.
Er schüttelte das Glas, bis sich eine lockere Masse gebildet hatte. Sie versuchte, ihren Mund geschlossen zu halten. Aber dazu war sie inzwischen zu schwach. Ein kurzer Druck auf ihr Kinn genügte. Schnell schüttete er den Brei hinein, presste seine Hand auf ihren Mund und rieb ihre Kehle so lange, bis sie schluckte.
Später hörte sie auf zu weinen und sah ihn an. Die graugelbe Haut bildete einen scharfen Kontrast zum irren Glanz ihrer Augen, der dem bläulichen Flügelschlag einer schillernden Schmeißfliege ähnelte. Ihm schauderte.
Der Arzt hatte vor einiger Zeit gemeint, dass sie sich in wenigen Tagen erholen würde. Irgendwann verging jeder Anfall, das wusste er. Er hatte Angst um sie und wünschte sich sehr, sie bald wieder mit nach oben zu nehmen. Dann würde er auch wieder für sie tanzen. Er würde ihre lachenden Augen sehen, wenn er die blanken Elektrodrähte zwischen die eigenen Zehen steckte, um sich zuckend im Strom zu bewegen. Dass er danach Turnschuhe statt Sandalen tragen musste, störte ihn nicht. Wichtiger war, dass die anderen Kinder die schwarzen Brandstellen an seinen Füßen nicht sahen.
Er legte seine Stirn an die ihre: Alles wird gut. Du musst gesund werden, ja? Und ich werde tanzen.
Vorsichtig schob er ihre Hände zurück unter die Lederfesseln, sie ließ es geschehen. Kurz strich ihre aufgequollene Zunge über die rissigen Lippen. Ihr Atem wurde gleichmäßiger, sie schlief.
Zuletzt legte er die Wolldecke wieder über den fiebrigen Körper, griff seinen Rucksack, erneuerte die Kerze und stieg nach oben.
Auf der letzten Stufe bekreuzigte er sich. Dann betete er leise zur Mutter Gottes.
ZWEI
Alles scheint durchwoben wie ein rotgraues Nebelnetz. Dunkelheit drückt wie ein zähes Gelee auf die Augen. Für Erinnerungen ist es viel zu früh, ihr Gehirn ist noch nicht bereit dazu. In Bruchstücken kommen und gehen erste Gedanken und Geräusche, Geschmack und Duft. Wie in einer Disco-Show: da, weg, da, weg …
Die Momente der Klarheit werden länger. Einzelne Szenen reichen schon über Sekunden hinweg. Sie verbinden sich zu Anfängen von Gedanken, auch wenn sie noch nicht greifbar sind. Atmen. Heftig und tief, ohne Pause. Aus einem Instinkt heraus. Denn da ist sonst nichts. Weder ein Geräusch noch eine Bewegung, absolut nichts, noch nicht mal ein Blitz. Völlige Dunkelheit und Stille.
Sie schläft fast die ganze Zeit.
Erst später dann die ersten Empfindungen. Ein leichter, undefinierbarer Geschmack nach Wald, Erde und Moos. Schlucken geht nicht, keine Kraft. Alles geschwollen. Die Augen sind zu, der Mund ebenso. Hätte sie es beschreiben können, dann hätte sie es Wollwärme genannt. Es ist fast so, als wenn es brennt, in ihrem Hals, im Kopf, überall. Wie eine alles umhüllende Fiebertemperatur. In einem der kurzen Momente, in denen sie nicht bewusstlos ist, erinnert sie sich in Bruchstücken an den Rest ihres Körpers, versucht etwas zu spüren. Aber keine ihrer Mühen wird belohnt, keine einzige Bewegung gemacht. Dumpf hämmert der Schmerz. Dann döst sie weg, viel zu schwach, um Träume zu sehen.
Etliche Stunden darauf ist der Kampf entschieden. Sie lebt. Auch wenn ihr noch alles fehlt, ihre Erinnerungen, Bewegungen und Gefühle. Vorerst hat sie nur ihre Instinkte. Ihren Kopf kann sie nicht drehen und auch keine Hände oder Füße bewegen. Etwas hält sie fest. Mit aller Kraft versucht sie, die Augen aufzureißen. Vergebens. Der Schmerz bleibt dabei gleich, egal was sie tut. Verzweifelt testet sie, den Mund zu öffnen, immer wieder, es will ihr nicht gelingen. Als sie dann einen Laut im Hals formt, weiß sie nicht, ob sie es sich doch nur wieder eingebildet hat. Auf die Idee, zu weinen, kommt sie nicht. Noch nicht. Später ist es wie ein kleiner Erfolg, als sie ihren Atem bewusst steuern kann. Sie riecht den Moder der Erde und die Wolle, die ihr Gesicht umhüllt. Zeit aber spielt jetzt keine Rolle mehr. Sie hat das Erlebte verdrängt. Unbewusst träumt sie sich weg. Jeder andere Ort ist besser als hier.
»Nicht schon morgen, aber bald, mein Kind, weißt du, wer du bist und wie du heißt. Schlaf dich aus, denn du wirst deine Kraft noch brauchen. Ganz bestimmt … und nun gute Nacht, schlaf schön …«
Durch die geschlossenen Lider sieht sie ein sanftes Licht, das zuerst auf das linke und dann auf das rechte Auge fällt. Sie bemerkt nicht, dass es der Schein einer Taschenlampe ist. Erneut versucht sie, die Augen zu öffnen. Etwas streicht sanft über ihr Gesicht, ohne sie wirklich zu berühren. Wie ein leichter Stoff oder auch nur wie ein Windhauch.
Ihre Schmerzen spürt sie nur leicht. Irgendwann entsteht das Gefühl, als würde sie sich zur Seite drehen. Die Zeit bis zum Einschlafen reicht nicht, um den kurzen Druck in beiden Armen zu bemerken. Viel lieber gibt sie sich wieder der Müdigkeit hin.
Etwas hat sie geweckt, ohne dass sie es hätte beschreiben können. Der Schlaf hat nichts Erholsames gehabt. Er hatte sie nur ein weiteres Mal alles vergessen lassen. Sie weiß nicht, wer sie ist. Sie dämmert nur. Die Wachphasen werden länger. Bewegungen sind noch nicht möglich, sie empfindet nichts. Sie starrt stumpfsinnig in die tiefschwarze Dunkelheit. Irgendwann bemerkt sie wieder einen spitzen Druck an beiden Armen, der jedoch schnell verschwindet.
Wieder ein Hauch über ihrer Haut, ein Luftzug wie ein unabsichtliches Vorbeistreicheln. In grauen Schatten zeichnen sich Konturen ab. Was sie verschwommen sieht, ist die hohe Decke eines Raumes. Es ist angenehm, mehr als Nichts zu sehen. Und dieses Gefühl gibt ihr die Gelegenheit, beruhigt einzuschlafen. Im schwachen Licht, das für einen Moment auf sie fällt, streicht jemand den Stoff neben ihr glatt.
»So ist es gut, mein braves Kind, schlaf dich aus, sammle Kraft und werd gesund. Nachher habe ich mehr Zeit für dich. Ich werde dir helfen. Ganz vorsichtig, das verspreche ich dir. Gute Nacht, mein Kind …«
DREI
Telefonisch war Staatsanwalt Bernhard Nagel nicht zu erreichen. Er konnte nur einen Rückrufwunsch hinterlassen. Die beiden Zeuginnen hatte Störmer vernommen, ohne neue Erkenntnisse zu gewinnen. Die Befragung des Jünglings würde er an seine Assistentin Sabine delegieren. Er war froh, dass er sie hatte. Wenn ihn jemand bitten würde, sie zu beschreiben, dann konnte er sie uneingeschränkt als zielsterbig, loyal und zurückhaltend bezeichnen. Sabine blieb dabei im Hintergund, hielt ihm den Rücken frei und bügelte seine Unzulänglichkeiten und Launen aus. Sie war schüchtern und zweifelte oft an sich selbst. Jede neue Herausforderung bei einer Ermittlung bereitete ihr Sorgen und gab ihr gleichzeitig Kraft. Ganz am Anfang ihrer Zusammenarbeit hatte sie sich gewünscht, nie direkt ermitteln zu müssen, immer in der zweiten Reihe bleiben zu dürfen. Störmer wusste kaum etwas von ihrem Privatleben, das sie komplett hinter den Dienst zurückgestellt hatte. Ihre treffsichere Intelligenz bei der Verfolgung komplexer Tathergänge und ihre Liebe zur Schreibtischarbeit füllten ihr Leben aus. Zwischen ihnen bildete sich schnell ein besonderes Vertrauensverhältnis und das gegenseitige Wissen, sich blind aufeinander verlassen zu können. So oft er konnte, beschützte er sie vor der Welt außerhalb der Polizeidienststelle. Sie mochten einander und wirkten auf Außenstehende oft wie ein altes Ehepaar. Und tatsächlich waren sie auch so aufeinander angewiesen.
Was